Minima Energetica - Speicher- vs Laufkraft

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5. Speicherkraftwerke und Laufkraftwerke

Wie wir gesehen haben, genügt es also nicht, elektrische Energie nur zu produzieren, sie muss auch genau in der richtigen Menge produziert werden. Nicht jeder Kraftwerkstyp ist dazu gleich gut geeignet. Völlig ungeeignet, diese Aufgabe zu übernehmen, sind die Wind- und die Solarkraftwerke, denn sie produzieren nur, wenn der Wind weht oder die Sonne scheint. Der ideale Kraftwerkstyp für diese Aufgabe ist das Speicherkraftwerk. Die Vorteile, die dieser Typ verglichen mit den anderen Kraftwerkstypen bietet, sind so groß, so evident, dass man überall in der Welt ausschließlich Speicherkraftwerke bauen würde, wenn, ― ― ja wenn es die Topologie des Landes erlauben würde.

Speicherkraftwerke gehören wie die sogenannten Laufkraftwerke zu den Wasserkraftwerken. Bevor wir auf die Unterschiede zwischen diesen beiden Typen eingehen, müssen wir uns mit dem fundamentalen Gesetz aller Wasserkraftwerke vertraut machen, nämlich dass die elektrische Leistung, die seine Generatoren abgeben, erstens proportional der Wassermenge ist, die über die Turbinen geführt wird; zweitens aber ist sie proportional der Fallhöhe zwischen dem Stausee und der Turbine. Ich will das beziffern: Hat man einen Kubikmeter Wasser pro Sekunde zur Verfügung und beträgt das Gefälle einen Meter, so vermag je nach Wirkungsgrad der Anlage das betreffende Kleinkraftwerk eine Leistung von acht bis neun Kilowatt zu liefern. Beträgt hingegen das Gefälle tausend Meter und werden zehn Kubikmeter Wasser pro Sekunde den Turbinen zugeführt, so ist die Leistung des betreffenden Kraftwerks 1000 x 10 mal größer, beträgt also achtzig bis neunzig Megawatt.

Laufkraftwerke sind dort zu finden, wo die Wassermenge groß, das Gefälle aber klein ist, also immer an größeren Flüssen, in Österreich zum Beispiel an der Donau. Ein typisches Laufkraftwerk ist das Kraftwerk Freudenau in Wien. Es nutzt bei einem Gefälle von rund 10 Metern eine Wassermenge, die bis zu 3000 Kubikmeter pro Sekunde betragen kann.

Bei den Speicherkraftwerken ist es umgekehrt. Bei ihnen ist die Wassermenge eher niedrig, dafür das Gefälle hoch. Das Wasser, mit dem sie betrieben werden, wird in einem hoch im Gebirge gelegenen Stausee gesammelt und über eine Druckleitung den im Tal aufgestellten Turbinen zugeführt. Speicherkraftwerke können daher nur dort gebaut werden, wo es erstens genügend Wasser gibt, zweitens aber dort, wo es möglich ist, die Wasserspeicher möglichst hoch anzuordnen, die Turbinen aber möglichst tief.

Ideal sind diese Voraussetzungen in Norwegen erfüllt. Es ist ausreichend viel Wasser vorhanden, und die Stauseen liegen, da das Land gebirgig ist und steil zur Küste abfällt, hoch in den Bergen, die Turbinen hingegen tief unten an der Meeresküste. Relativ einfach ist in Norwegen auch die Errichtung solcher Stauseen, denn es genügt, einen engen Fjord mit steil abfallenden Hängen mit einer Staumauer abzuriegeln. Gewiss ist es nicht unproblematisch, Land mit Stauseen zu überfluten, doch Norwegen ist flächenmäßig sehr groß und hat genügend Ödland, so dass dieser Nachteil nicht besonders ins Gewicht fällt.

Speicherkraftwerke haben drei Eigenschaften, die für eine sichere und wirtschaftliche Stromversorgung höchst wünschenswert sind. Erstens ist die Primärenergie erneuerbar und kostet praktisch nichts, denn sie stammt von den Bächen, welche den Stausee speisen. Dasselbe gilt auch für die Windkraft; auch der Wind, der ein Windrad antreibt, kostet ja nichts. Das andere Extrem in dieser Hinsicht sind die thermischen Kraftwerke, wo die Primärenergie, zum Beispiel Öl oder Gas, sehr wohl etwas kostet, und ein Land, das solche Primärenergieträger importieren muss, in Abhängigkeit bringt von seinen Lieferanten und den politischen Fährnissen in der Welt, wie wir sie zur Zeit ― es ist Herbst 2022, da ich das schreibe ― erleben müssen.

Die zweite wünschenswerte Eigenschaft von Speicherkraftwerken ist, dass es die Entscheidung seines Betreibers ist, wann er Strom produziert und wieviel davon. Das andere Extrem in dieser Hinsicht sind die an den größeren Flüssen gelegenen Laufkraftwerke. Ihre Energieproduktion ist abhängig von der Wasserführung des Flusses. Fließt wenig Wasser, wird wenig produziert, fließt viel Wasser, viel; führt der Fluss bei Hochwasser mehr Wasser als die Turbinen schlucken können, muss das Laufkraftwerk unter Umständen stillgelegt und das Wasser über das Wehr geleitet werden, statt über die Turbinen. Strom wird in diesem Fall keiner erzeugt. Analoges gilt für Windkraftwerke. Auch bei diesen ist die Stromproduktion abhängig, ob und wie stark der Wind bläst, und das Analogon zum Hochwasser bei einem Laufkraftwerk ist beim Windkraftwerk der Sturm. Er erzwingt die Abschaltung der betreffenden Windräder, weil sie sonst überlastet wären. Sowohl bei Lauf- als auch bei Windkraftwerken hat der Betreiber Einfluss auf die Produktion nur insofern, als es ihm lediglich freisteht, seine Anlage jederzeit abzuschalten. Sonst muss er fatalistisch nehmen, was an Primärenergie gerade daherkommt.

Verglichen mit einem Windkraftwerk hat ein Laufkraftwerk jedoch einen großen Vorteil: Sein Betreiber weiß schon mehrere Tage, ja oft Wochen im Voraus, wie viel Wasser der Fluss, an dem sein Kraftwerk liegt, etwa führen wird, denn die Pegel der Flüsse verändern sich langsam. Er kann seine Planungen daher danach richten. (Die österreichische VERBUND weiß schon einige Tage im Voraus, wann die Erzeugung von Strom durch die Laufkraftwerke nicht mehr ausreichen wird, weil die Pegel der Flüsse sinken; wann es daher erforderlich sein wird, ersatzweise thermische Kraftwerke in Betrieb zu nehmen.) Der Wind hingegen ist ein äußerst launisches Ding, der weht, wie es ihm beliebt.

Die Windenergieproduktion ist daher nicht planbar. Zwar weiß man mit einiger Sicherheit, ob der Wind morgen wehen wird, doch den genauen Wert, also wie stark er sein wird, kennt man nicht. Die Windgeschwindigkeit ist insofern höchst kritisch, weil die Leistung, die ein Windrad abgibt, sich mit der dritten Potenz der Windgeschwindigkeit ändert. Ist das Windkraftwerk zum Beispiel so ausgelegt, dass es bei einer Windgeschwindigkeit von fünfzig km/h seine volle Leistung abgibt, so sinkt seine abgegebene Leistung auf die Hälfte ab, wenn die Windgeschwindigkeit lediglich um zwanzig Prozent niedriger ist, also wenn sie statt fünfzig nur vierzig km/h beträgt. Weht der Wind nur halb so stark, also nur mit 25 km/h, so sinkt die Leistung des Windrades gar auf mickrige 12,5 Prozent. Der Betreiber einer Windkraftanlage weiß also bestenfalls, ob er am nächsten Tag überhaupt Strom produzieren wird; wieviel Strom es sein wird, weiß er hingegen nicht.

Weiter oben habe ich dargelegt, wie wichtig es für die Energieerzeuger ist, schnell wieder das Gleichgewicht zwischen erzeugter und verbrauchter elektrischer Energie herzustellen, sollte es aus irgendeinem Grund gestört sein. Das führt uns zum dritten großen Vorteil von Speicherkraftwerken: Auf Grund ihrer Bauart gestatten sie eine schnelle Intervention, wenn die Netzstabilität gefährdet ist. Muss die Produktion erhöht werden, genügt es, den vor der Turbine liegenden Schieber stärker zu öffnen und somit mehr Wasser auf die Turbine zu leiten. Ist die Sache umgekehrt, wird im Netz zu viel Energie produziert, genügt es, die Öffnung des Schieber zu verkleinern. Das ist alles. Das Ganze ist also nicht viel anders als das jedermann bekannte Auf- und Zudrehen eines Wasserhahnes; es geht daher sehr schnell vonstatten. Prinzipiell wäre eine rasche Intervention auch bei Windkraftanlagen möglich, vorausgesetzt, dass der Wind weht. Dazu müsste man nur eine Anzahl von Windrädern in Reserve halten, um sie, wenn der Strombedarf steigt, schnell zuschalten zu können. Wird hingegen weniger Energie benötigt, könnte eine gewisse Zahl an Windrädern abgeschaltet werden. Der Nachteil dabei ist, dass Primärenergie ungenützt verloren geht. Außerdem haben die meist privaten Betreiber von Windkraftanlagen eine Stromabnahmegarantie, das heißt, es wird ihnen der Strom abgenommen, den sie produzieren. Standby-Haltung von Windrädern oder Abschaltungen sind also schon rein rechtlich nicht möglich.

Den Nachteil, dass Primärenergie verloren geht, wenn die Stromproduktion gedrosselt wird, haben Speicherkraftwerke nicht. Verringert man deren Leistung, indem man den Schieber zumacht, fließt zwar weniger Wasser durch die Turbine, doch das Wasser, das man ihr vorenthält, ist nicht verloren; es bleibt im Speicher und kann zu einem späteren Zeitpunkt in elektrische Energie umgewandelt werden.

Ich fasse zusammen: Speicherkraftwerke haben drei äußerst wünschenswerte Eigenschaften. Erstens kostet die Primärenergie nichts. Zweitens steht es ihren Betreibern frei, ob und wieviel Energie sie produzieren wollen. Drittens gestatten sie rasche Laständerungen, was für die Aufrechterhaltung der Netzstabilität von überragender Wichtigkeit ist.

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Speicherkraftwerke gestatten also eine schnelle Intervention, wenn es gilt, die Schaukel wieder ins Gleichgewicht zu bringen, wenn dieses aus irgendeinem Grund gestört sein sollte. Wie es in dieser Hinsicht mit der Windkraft und mit der anderen Form der Wasserkraft, den Laufkraftwerken bestellt ist, haben wir dargelegt. Wie schaut es damit bei den anderen Kraftwerkstypen, den Dampf- oder Gaskraftwerken aus?

Betrachten wir zunächst die ersten. Dampfkraftwerke sind ungemein träge. Sie aus dem kalten Zustand auf ihre volle Leistung zu bringen, dauert viele Stunden, ja Tage. Ein Dampfkraftwerk kann man nicht so schnell anknipsen wie eine Glühbirne oder nicht so schnell aufdrehen wie einen Wasserhahn. Ebenso wenig kann die Leistung, die sie abgeben, schnell verändert werden. Aus den genannten Gründen ist es daher am wirtschaftlichsten, Dampfkraftwerke rund um die Uhr und rund um das Jahr mit ihrer vollen Leistung zu betreiben. Deshalb werden sie in der Regel nur abgeschaltet, wenn unvermeidliche Wartungsarbeiten anstehen oder wenn schwerwiegende Defekte die Abschaltung erzwingen. Da ein Jahr 8760 Stunden hat, kann man davon ausgehen, dass es ein Dampfkraftwerk auf mindestens 8000 Betriebsstunden pro Jahr bringt. Ist es für eine Nennleistung von 100 Megawatt ausgelegt, so produziert das Kraftwerk im Jahr 800.000 Megawattstunden, also 800 Millionen Kilowattstunden. Ein Windpark, der die gleiche installierte Leistung hat, bringt es hingegen nur auf rund ein Fünftel dieser Menge, weil der Wind nicht oder nicht genügend stark weht. Um ein Dampfkraftwerk, das eine installierte Leistung von 100 Megawatt hat, zu ersetzen, benötigt man daher eine Windkraftanlage mit einer installierten Leistung von 500 Megawatt.

Auf Grund ihrer großen Trägheit übernehmen in einem Stromnetz Dampfkraftwerke daher die Grundlast, also jenen Teil des Strombedarfs, der sich nicht oder nur vorhersehbar langsam ändert. Wegen ihrer Trägheit und der dadurch bedingten langen Reaktionszeit werden ihnen keine netzstabilisierenden Aufgaben übertragen.

Eine Zwischenstellung zwischen den Speicherkraftwerken und den Dampfkraftwerken nehmen die Gaskraftwerke ein. Zwar können sie nicht so schnell reagieren wie die ersteren; trotzdem sind sie um Größenordnungen schneller als die letzteren ― man erinnere sich an die Gasturbinen eines Jets, mit denen wir sie weiter oben verglichen haben. Es dauert nicht viele Stunden, sondern lediglich Minuten, um sie anzufahren; aber auch Leistungsänderungen sind rasch möglich. Will man mehr Leistung, gibt man sozusagen mehr „Gas“, will man weniger Leistung, geht man eben vom „Gas“. Primärenergie geht dadurch also nicht verloren.