Minima Energetica - Europäisches Verbundnetz

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6. Das kontinentale europäische Verbundnetz

Wir leben im Verbund. Die Stromnetze der meisten europäischen Länder sind zu einem einzigen riesigen kontinentalen Verbundnetz zusammengeschlossen, das von Spanien und dem Balkan bis zur Ostsee, vom Atlantik und der Nordsee bis in die Ukraine reicht. (Neben dem kontinentalen Verbundnetz gibt es in Europa noch das Nordische Verbundnetz, dem die Staaten Norwegen, Schweden und Finnland angehören; außerdem das Baltische Verbundnetz und das Verbundnetz von Großbritannien. Weißrussland ist im Verbund mit Russland.)

Welchen Vorteil bringt der Zusammenschluss der europäischen Netze zu einem Stromverbund? ― Nun vor allem den, dass er die Aufrechterhaltung der Netzstabilität sehr erleichtert. Um das zu verstehen, bemühen wir noch einmal unser Gleichnis mit der Schaukel. Wenn an ihren Enden jeweils zwei Personen sitzen, doch an einem ihrer Enden eine Person abspringt, so wird die Schaukel rasch zu Boden sinken. Sitzen aber jeweils hundert Personen an den Enden, und springt in diesem Fall eine Person ab, so wird die Schaukel zwar ebenfalls zu sinken beginnen, aber bei weitem nicht so schnell wie im ersten Fall. Dadurch gewinnt man Zeit für die Intervention, in der man die gestörte Balance wieder herstellen kann, bevor es zu spät ist und es zu einem größeren Shutdown kommt. Ein weiterer Vorteil des Verbundnetzes ist, dass jedem Teilnetz die Reserven des Gesamtnetzes zugutekommen, weil man, wenn die Produktion des eigenen Netzes gestört ist, kurzfristig Energie aus dem Gesamtnetz importieren kann. Der Zusammenschluss der einzelnen Teilnetze erlaubt auch den Handel mit Strom unter ihnen, aber ob das ein Vorteil ist, kann bezweifelt werden.

Durch gemeinsame Anstrengung aller seiner Mitglieder muss dieses Netz stabil gehalten werden. Die wichtigste Größe, die es dabei konstant zu halten gilt, ist die Frequenz des Verbundnetzes. Sie ist im gesamten Verbundnetz die gleiche und beträgt, von geringen Schwankungen abgesehen, fünfzig Hertz. Es sind die Schwankungen der Netzfrequenz, die anzeigen, ob das Gleichgewicht zwischen erzeugter und verbrauchter Leistung gewahrt oder gestört ist. Wird zu wenig Energie produziert, sinkt die Frequenz; sie sinkt umso schneller, je größer der Fehlbetrag an erzeugter Energie ist. Analoges gilt für den Fall, dass zu viel Energie produziert wird. Das riesige Netz stabil zu halten, heißt daher nichts anderes, als seine Frequenz in einem engen Band um die Sollfrequenz von fünfzig Hertz zu halten. Sie darf daher maximal um ein Prozent, also ein halbes Hertz nach oben und nach unten abweichen.

Das Verbundnetz ist stabil, wenn alle Teilnetze, aus denen es besteht, stabil sind. Jeder Betreiber eines Teilnetzes (Der Betreiber des österreichischen Teils des europäischen Verbundnetzes ist die APG (Austian Power Grid), eine Tochtergesellschaft der VERBUNG AG.) ist daher angehalten, dafür zu sorgen, dass die Energie, die in seinem Netz erzeugt wird, im Gleichgewicht ist mit der Energie, die in seinem Netz verbraucht wird. Kommen alle Staaten dieser Verpflichtung nach, halten sie die Netze, die sie betreiben und für die sie verantwortlich sind, stabil, ist auch das europäische Verbundnetz stabil.

Wie können nun die einzelnen Staaten feststellen, dass ihr Netz stabil ist, und sie ihrer Verpflichtung nachkommen? Die Netzfrequenz ist es nicht, denn die ist im gesamten Verbundnetz die gleiche; wenn sie schwankt, ist das zwar ein Indiz, dass das ganze Verbundnetz aus dem Gleichgewicht zu geraten droht, nicht aber wodurch. Welches Teilnetz für die Frequenzschwankung verantwortlich ist, kann so nicht festgestellt werden. Das geschieht vielmehr dadurch, dass die Betreiber der Teilnetze die Energieflüsse an den Leitungen, mit denen sie mit dem Verbundnetz verbunden sind, kontrollieren und bilanzieren. Über einige dieser Leitungen fließt elektrische Energie in das Teilnetz hinein, über andere wiederum hinaus. Man macht also ständig Bilanz. Fließt in ein Teilnetz von außen genau so viel Energie hinein als Energie aus ihm nach außen abfließt, so ist dieses Teilnetz stabil.

Der Einfachheit halber haben wir hier vom Stromhandel abgesehen. Berücksichtigt man diesen, so wird die Energie, die ein Teilnetz zugekauft hat, auf der Erzeugerseite seiner Energiebilanz bilanziert; die Energie hingegen, welche das Teilnetz verkauft hat, auf ihrer Verbraucherseite. Dazu ein Beispiel: Nehmen wir an, die Leistung, die der österreichische Teil des europäischen Verbundnetzes verbraucht, wäre 10.000 MW. Die APG, als Betreiber dieses Netzes, hätte aus Tschechien 1000 MW an Strom zugekauft, nach Slowenien aber 500 MW verkauft. Die Strombilanz der APG schaut bei diesen Annahmen wie folgt aus: Der Verbrauch ist 10.000 + 500 = 10.500 MW. Wenn die österreichischen Kraftwerksbetreiber, allen voran die VERBUND AG, 9.500 MW in das Netz der APG einspeisen, so beträgt also die Erzeugung 9.500 MW plus den 1000 MW, die aus Tschechien zugekauft wurden, also insgesamt wieder 10.500 MW. Das Netz der APG ist also stabil.

Kommt es im europäischen Verbundnetz zu einer merklichen Änderung der Frequenz, so ist der Verursacher dieser Änderung jenes Teilnetz, dessen Leistungsbilanz gestört ist.

Nehmen wir beispielsweise an, in Österreich würde ein wichtiges Kraftwerk ausfallen. Da die Leistung des ausgefallenen Kraftwerkes nun fehlt, wird die österreichische Strombilanz negativ, und zwar um die Leistung, die das Kraftwerk geliefert hat, bevor es ausgefallen ist. Kurzfristig wird das europäische Verbundnetz einspringen und die Leistung bereitstellen, die Österreich augenblicklich fehlt, wodurch elektrische Energie ins Land fließen wird. Mit dem Ausfall des Kraftwerkes wird auch die Frequenz im europäischen Verbundnetz zu sinken beginnen. Das wird zwar sehr langsam sein, denn angesichts des riesigen europäischen Netzes mit seinen tausenden Kraftwerken bedeutet der Ausfall eines österreichischen Kraftwerkes, und wäre es das größte, nicht allzu viel. Nichtsdestoweniger muss über kurz oder lang jemand im Netz die Produktion um den ausgefallenen Betrag erhöhen, bevor die Frequenz auf einen kritischen Wert abgesunken ist. Idealerweise wird dieser Jemand Österreich selbst sein, vorausgesetzt, dass entsprechende Reserven im Land vorhanden sind. Wenn das aber kurzfristig nicht möglich ist, muss jemand anderer im europäischen Verbundnetz einspringen und Österreich mit der Leistung beliefern, die ihm durch den Ausfall des Kraftwerkes fehlt. Für diesen Strom muss Österreich einen sehr hohen Preis bezahlen, der umso größer sein wird, je länger es dauert, bis Österreich es schafft, seine gestörte Energiebilanz mit den eigenen Ressourcen wieder auszugleichen. Österreich wird daher sein Möglichstes tun, dass dies so rasch wie möglich geschieht. Bezahlt muss aber auch dann werden, wenn ein Land Überschüsse produziert und den anderen Ländern Strom sozusagen aufdrängt.