Anders Günther: Die Antiquiertheit des Menschen - Apokalypse-Blindheit

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Apokalypse / Apokalypse-Blindheit / Endzeit / Prometheische Scham / Moral

Am Anfang und am Ende der "Antiquiertheit" steht die Apokalypse. Biblisch gesprochen: schon am Anfang war "Schluss mit Lustig": die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Am Ende die Apokalypse als "Jüngstes Gericht" mit "Heulen und Zähneknirschen" als Erlösung der Menschheit. Anders bzw mit Anders gesprochen: am Anfang steht die Pometheische Scham und am Ende die Apokalypse-Blindheit, d.h. die Auslöschung des Menschen durch die Atombombe, deren Bedrohung wir aber nicht wahr haben wollen, deren Endgültigkeit unvorstellbar ist.

Der biblische Schöpfungsakt, nachdem Gott aus Erde Adam und aus einer Rippe Adams Eva geschaffen hatte, endet mit der Feststellung: "Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht." (1 Gen 2, 25) Erst als sie gegessen hatten vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse erkannten sie, dass sie nackt waren und bedeckten ihre Scham. Das Schamgefühl folgt unmittelbar auf die Fähigkeit der Erkenntnis, und Erkenntnis selbst ist die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden.

In der griechischen Mythologie ist Prometheus der Lehrmeister des Menschen und der Überbringer des Feuers. Anders bzw mit Anders betrachtet ist Prometheus der Schöpfer des Menschen, wenn man den homo faber, den Menschen, der imstande ist Werkzeuge zu produzieren, als eigentlichen Menschen betrachtet. Denn erst mit dem Feuer des Prometheus konnte der Mensch jene Werkzeuge schaffen, die in der Neuzeit zu den industriellen Revolutionen geführt haben.

Die Menschen haben in der dritten industriellen Revolution die Beherrschung der Technik so weit perfektioniert, dass sie die Technik aus der Hand geben konnten. Seither beherrscht die Technik den Menschen (Technokratie); so sind die Menschen heute "Prometheiden". Anders erläutert: "Zerfleischung erleiden auch sie - nur eben nicht deshalb, weil ein Zeus ihre zu hochfliegenden Ambitionen bestrafte, sondern weil sie sich selbst züchtigen für die Tatasche, ihrer 'Zurückgebliebenheit', für die 'Schande ihrer Geburt'." (57) Die "prometheische Scham" bedeutet: "Ich schäme mich vor dem, was mir überlegen ist, ergo sieht es mich." (86)

Nachdem nun (24.2.23) seit einem Jahr wieder Krieg in Europa ist, und sich zwei Atommächte (USA und Russland) direkt und indirekt gegenüber stehen, drohen Imperatoren (Biden ebenso wie Putin) erstmals seit vielen Jahrzehnten wieder mit dem Atomkrieg. Wie Günther Anders richtig vorhergesehen hat, konnten die Abrüstungsmaßnahmen nach dem Ende des Kalten Krieges die real existierende Gefahr des Atomkriegs nicht aus der Welt schaffen. So wie wir seit über zwei Jahrzehnten geblendet waren von der schönen neuen digitalen Welt, in der auch der Krieg scheinbar ins Cybernet abgewandert ist, so sehen wir heute: der Krieg war immer da, allerdings nicht immer in Europa und nicht immer mit Panzern, Raketen und MPs. Immer noch blind sind wir gegenüber der potenziellen Auslöschung der Menschheit durch die Atombombe, denn unsere Vorstellungskraft reicht nicht aus, um die totale Zerstörung nachzuvollziehen, genauer gesagt: der Mensch ist unfähig, die atomare Zerstörung rational und emotional vorwegzunehmen und zu erfassen.

Wir sind Titanen (so wie Prometheus). "Mindestens für die mehr oder minder kurze Frist, in der wir omnipotent sind, ohne von dieser unserer Omnipotenz endgültig Gebrauch gemacht zu haben." (233). "Und wenn sich etwas verändert hat, dann nur zum Böseren, weil es ja die Menschheit als ganze ist, was heute tötbar ist, und nicht nur 'alle Menschen'." (237) "Die Herstellung und dem Einsatz des Dings [Anm: der Atombombe] steht nichts im Wege: Denn es ist gerade die große Zahl der Mitbeteiligten und die Kompliziertheit des Apparates, was die Verhinderung verhindert." (240) "Klassifizieren kann man die Bombe nicht. Sie ist ontologisch eine Unikum. Und das macht ihren anarchischen Charakter aus. Wesen, die man nicht klassifizieren konnte, nannte man früher 'monströs'; das heißt: als 'monstra' hatten Wesen gegolten, die, obwohl sie kein 'Wesen' hatten, doch da-waren und, der Frage, was sie seien, ins Gesicht lachend, ihr Unwesen trieben. Ein solches Wesen ist die Bombe. Sie ist da, obwohl wesenlos. Und ihr Unwesen hält uns in Atem." (247)

Günther Anders kritisiert im Kapitel "über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit" auch das systemische Versagen der akademischen Philosophie, die sich "ja gewöhnlich erst dann bequemt, die Schläge, die die Wirklichkeit auf uns niederfallen läßt, in 'Probleme' zu verwandeln, wenn die Opfer dieser Schläge nicht nur schon tot, sondern auch schon vergessen sind." (231) Der Philosoph verweist darüber hinaus auf historische Zusammenhänge, die heute wohl alle Vertreter der "political correctness", und damit auch die Mehrheit der Philosophie-Professoren, zensurieren würden: "Wenn man ihre Konstruktion während des Krieges mit solchem Eifer vorwärtstrieb, so zum großen Teil deshalb, weil man der Verwendung der Waffe durch Hitler, der schließlich Massenliquidierungen zum Prinzip gemacht hatte, zuvorkommen mußte. Es ist entsetzlich, daß das Vorbeugungsmittel sich 'am Feind infiziert' hat; und daß die Massenmorde von Nagasaki und Hiroschima, aber auch die heutigen sogenannetn 'Experimente', zu Zwillingsereignissen der organisierten Liquidierungen Hitlers geworden sind." (747)

Wenn sich die Menschen, anstatt sich reflexartig über Günther Anders zu entrüsten, mit ihm entsetzen würden, dann könnte es passieren, dass ihnen ihre Apokalypse-Blindheit wie Schuppen von den Augen fällt, so wie geschrieben steht: "Und alsobald fiel es von seinen Augen wie Schuppen, und er ward wieder sehend." (Apostelgeschichte 9,18) Doch kann man der Logik der Zerstörung durch ein Wunder entkommen?

In den "methodologischen Nachgedanken" können wir keine eindeutige Antwort, aber Spuren einer Antwort auf diese Frage finden. "Das Ssytem als Philosophie-Typ stirbt aus oder ist bereits ausgestorben," erklärt Anders und geht so weit, zu behaupten: "Meine Überlegungen waren unphilosophisch - was freilich nicht nur von meinen Reflexionen gilt". (714) Er geht noch einen Schritt weiter: "Daß diese Reflexionen, obwohl in ihnen kein Gott figuriert, nicht anders denn als 'theologisch' bezeichnet werden können, das läßt sich wohl nicht bestreiten." (704). Natürlich will Anders mit dieser Aussage sowohl Berufsphilosophen als auch Berufstheologen provozieren, denn er will kein rationales, metaphysisches System zur Welterklärung zu errichten. Statt dessen konzentriert sich Anders auf die "Möglichkeit von Deutung" und die "Dialektik der Deutung", eine Methode, die Wittgenstein als Sprachspiel bezeichnet hat.

"Gedeutet werden und sich deutlich machen kann allein Lebendiges. Und zwar deshalb, weil allein Lebendiges sich äußert. Nur Äußerungen lassen sich deuten. Der Mond nicht. Wohl aber ein Menschenbild." (717) Auch Apparate, Geräte, Werkzeuge lassen sich nicht deuten. Die Technik ist so kompliziert geworden, "daß ihr die Sinnlichkeit nicht mehr gewachsen ist (in der Tat ist Technik heute 'übersinnlich')". (720) "So sehen z.B. die Kernkraftwerke 'nach nichts' aus, etwa wie Moscheen mit Schornsteinen; und zeigen nicht im mindesten, was sie ausrichten sollen und ausrichten können, welche enorme Leistung sie bergen und welche enorme Drohung sie verbergen." (721)

Der Mensch ist antiquiert, weil er die Technik nicht mehr durchschaut, nicht mehr als Ganzes verstehen kann, als Spezialist bestenfalls Details des Ganzen. "Jeder von uns ist heute 'von gestern'. In diesem 'gap' besteht der ideologische Zustand unseres Zeitalters, das Gefälle, das ich im ersten Bande das 'prometheische' genannt hatte. Und unser Verhängnis". (724) Um dem Verhängnis, Zugzwang, Schicksal oder auch nur dem Konsumterror nicht tatenlos ausgeliefert zu sein, kann "prognostisches Verstehen" (so würde Anders das Deuten nennen, wenn er einen "akademischen Text" geschrieben hätte) Abhilfe schaffen. "Deuten ist heute nicht das Spezialgeschäft von 'Geisteswissenschaftlern', vielmehr ist es zur moralischen Aufgabe von uns allen geworden."

Zur Deutung gehören auch Diagnose und Prognose. Diagnose war Kernkompetenz der Ärzte, die ihren Beruf noch als Heilkunst verstanden haben, während die Apparatemediziner von heute nur mehr gemäß Testergebnis streng nach Protokoll Reparaturen mit Maschinen und Medikamenten vornehmen. Prognose war seit jeher das "Spezialgebiet" der Mystiker und Propheten, während in unserer profanen Zeit "Zukunftsforscher" und "Meinungsforscher" mit vorgeblich wissenschaftlichen Methoden den Anspruch erheben, heute schon zu wissen, was morgen passieren wird. Die Fähigkeit zu Deuten ist weitgehend verloren gegangen.

Gleichsam als Hausaufgabe zur Einübung und Stärkung unserer Deutungskraft kann der Schlusssatz aus dem Kapitel "Die Antiquiertheit der Bosheit" dienen: "Der Teufel hat eine neue Wohnung bezogen. Und wenn wir auch unfähig sind, ihn über Nacht auszuräuchern - wenn wir ihn überhaupt ausräuchern wollen - dann müssen wir mindestens wissen, wo er sich verbirgt, und wo wir ihn auffinden können. Damit wir ihn nicht in einem Winkel bekämpfen, in dem er schon längst nicht mehr hockt; und damit wir nicht aus dem Nebenzimmer von ihm gefoppt werden." (708)

Resümee: Nicht nur um das Monströse zu beschreiben und zu deuten, auch um aufzurütteln und die schlafende Masse aufzuwecken, schlüpft Günther Anders in die Rolle des Untergangs-Propheten, der uns eindringlich vor Augen führt, dass uns Rundfunk, Fernsehen und heute umso mehr das Internet eine Welt vorspiegeln, die nur deshalb so ist, wie sie ist, weil wir offenbar gerne in den Spiegel schauen, weil wir lieber Bilder anschauen, als uns selbst der Wirklichkeit auszusetzen.

Der TV-Bildschirm hat zu Günther Anders' Zeiten den privaten Raum okkupiert, hat uns die Phantome der Sender live ins Wohnzimmer gebracht. Der Bildschirm der allgegenwärtigen Smartphones liefert heute buchstäblich Tag und Nacht Bilder aus und in die Phantomwelt - heute nennen wir sie virtual Reality, die als Cloud immer und überall über uns schwebt.

Während wir uns kaum noch bewegen, bewegen uns die Bilder. Selbst als Touristen sammeln die Menschen keine Erlebnisse in fremden Welten, sondern nur Bilder, die sie bereits aus dem Internet kennen. Auch die ärgsten Gräuel unserer Zeit lassen wir ganz nah an uns heran, denn wir haben einen Schutzschirm, der immer wirkt: den Bildschirm. Der Verlust von Realitätsgefühl hängt damit zusammen, dass wir für alle Probleme dieser Welt - egal ob Bombenabwürfe in Kriegsgebieten oder Bettler auf der Straße - diesen einen Schutzschirm haben.

Das Smartphone bringt uns die Welt näher, egal wo wir sind, und uns zur Welt, egal wo diese ist. Das ist unser Verhängnis, unser Schicksal, an dem wir hängen. Aber wir können den Kopf aus der Schlinge ziehen! Immer noch, und bis zur letzten Minute bevor ein Imperator dieser Welt auf den roten Knopf drückt, können wir die Verantwortung für unser Handeln und einen Teil unserer Welt übernehmen. Mit Kant könnte man sagen: sapere aude! Und mit Günhter Anders wollen wir schließen - klassisch philosophisch mit einer Frage: "Vor 180 Jahren hat Friedrich Schlegel die Historiker 'rückwärts gekehrte Propheten' genannt. Hätten wir nicht heute das Recht, Prognostiker als 'vowärts gekehrte Historiker' zu bezeichnen?" (727)

Alle Zitate aus:

Günther Anders

Die Antiquiertheit des Menschen, München 1980