Musil Robert: Der Mann ohne Eigenschaften

Warum ist "Der Mann ohne Eigenschaften" (MoE) ein Roman und doch kein Roman? Ein Roman im konventionellen Sinn erzählt Geschichten. Die Geschichte hat immer einen bestimmten nachvollziehbaren und nacherzählbaren Ablauf, egal ob es sich dabei um Erlebnisse und Tätigkeiten handelt, oder um Naturschilderungen. So gesehen könnte man die Geschichte des MoE in Kürze zusammenfassen:

Der erste Teil des Romans, "eine Art Einleitung", dient der Beschreibung von Zeit ("Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913", MoE 9) und Ort der Handlung (d.i. "Kakanien", MoE 31), woraus aber "bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht" (MoE 9). Außerdem wird schon hier Ulrich, die Hauptfigur des Romans, charakterisiert als MoE. Ulrich beschließt, "sich ein Jahr Urlaub von seinem Leben zu nehmen, um eine angemessene Anwendung seiner Fähigkeiten zu suchen" (MoE 47). Die briefliche Ermahnung seines Vaters, der sich um Ulrichs Zukunft Sorgen macht, leitet über zum zweiten Teil, in welchem "seinesgleichen geschieht" (MoE 81).

Die Handlung des zweiten Teils kreist um den "Ausschuß zur Fassung eines leitenden Beschlusses in bezug auf das Siebzigjährige Regierungs-Jubiläum seiner Majestät" (MoE 296), in der Folge kurz Parallelaktion genannt, weil dieses Jubiläum des "Friedenskaisers" im gleichen Jahr stattfmden soll, wie das bloß Dreißigjährige Jubiläum Kaiser Wilhelm II. Ulrich wird durch die Protektion seines Vaters (um es vornehm zu sagen) von Graf Leinsdorf zum Ehrensekretär dieser Aktion ernannt.

Der Salon von Ermelinda Tuzzi, Ulrich nennt sie (in Anspielung an Platon) Diotima, wird zum Zentrum der Parallelaktion und zum Treffpunkt von Personen mit Rang und Namen. Darunter Graf Leinsdorf, der nichts als den Patriotismus unter Führung der Aristokratie fördern will; darunter Amheim, Großschriftsteller und Großindustrieller, der uneigennützig durch den Erwerb der galizischen Ölfelder und mithilfe seiner Waffenindustrie den Frieden sicherstellen will; darunter General Stumm von der Bordwehr, der militärische Ordnung in den Zivilverstand bringen will; darunter, oder als skeptischer Beobachter schon eher daneben, Diotimas Ehemann, Sektionschef Tuzzi, der um das europäische Gleichgewicht besorgt ist.

Parallel zur Parallelaktion geschieht seinesgleichen bei anderen bedeutungsvollen Ereignissen:

1. Die seelenvolle Beziehung zwischen Arnheim und Diotima, die niemals nicht zum Ehebruch führt.

2. In einem anderen sozialen Milieu das Verhältnis zwischen RaheI, der Gehilfm Diotimas, und Soliman, dem Diener Arnheims, das in der Schwangerschaft Rahels endet (oder auch nicht).

3. Die Beziehung Ulrichs zu seiner Geliebten Bonadea, oder vielmehr umgekehrt.

4. Das Verhältnis Gerdas zum deutschnationalen Studenten Hans Sepp; eine Beziehung, die Gerdas jüdischer Vater, der Bankdirektor Leo Fischel, ablehnt, weshalb er Ulrich bittet, einzugreifen. Das versucht Ulrich mit gefühlvollen Worten und mit gefühllosen Taten, aber ohne viel Erfolg.

5. Die Ehe von Walter, einem gescheiterten Künstler, und Clarisse, die sich Walter verweigert, den Frauenmörder Moosbrugger befreien, und von Ulrich den Erlöser der Welt empfangen will.

Als Clarisse eben das versucht in die Tat umzusetzen, erhält Ulrich ein Telegramm,...

(Auszug aus: "Musil als Philosoph", Diplomarbeit 1987)

So wie viele Standardwerke der Weltliteratur ist auch Der Mann ohne Eigenschaften dank Projekt Gutenberg im Internet in voller Länge abrufbar: Musil, Robert projekt-gutenberg.org

Das folgende Zitat aus dem MoE zeigt, wie zeitlos der Roman ist: „Wenn die Dummheit nicht von innen dem Talent zum Verwechseln ähnlich sehen würde, wenn sie außen nicht als Fortschritt, Genie, Hoffnung, Verbesserung erscheinen könnte, würde wohl niemand dumm sein wollen, und es würde keine Dummheit geben. Zumindest wäre es sehr leicht, sie zu bekämpfen. Aber sie hat leider etwas ungemein Gewinnendes und Natürliches. Wenn man zum Beispiel findet, daß ein Öldruck eine kunstvollere Leistung sei als ein handgemaltes Ölbild, so steckt eben auch eine Wahrheit darin, und sie ist sicherer zu beweisen als die, daß van Gogh ein großer Künstler war. ... Es gibt schlechterdings keinen bedeutenden Gedanken, den die Dummheit nicht anzuwenden verstünde, sie ist allseitig beweglich und kann alle Kleider der Wahrheit anziehen. Die Wahrheit dagegen hat jeweils nur ein Kleid und einen Weg und ist immer im Nachteil.“