Küng Hans: Projekt Weltethos - Wahrheit vs Glaubenswahrheit

Beitragsseiten

Was ist Wahrheit?

Wenn Küng in „Projekt Weltethos“ über Wahrheit schreibt, dann meint er in Wahrheit die Glaubenswahrheit. Diese unterscheidet sich von „der“ Wahrheit dadurch, dass sie nicht gefunden werden kann wie ein Naturgesetz und nicht erfunden wie eine künstlerische Kreation. Die Glaubenswahrheit wird offenbart und in weiterer Folge überliefert; daraus bilden sich Legenden und Mythen. Im Mysterium kann eine Glaubenswahrheit unmittelbar erlebt werden. Die Glaubenswahrheit ist das „Geheimnis des einen wahren Gottes“. Das Wesen des Geheimnisses besteht darin, dass es nicht enthüllt werden kann. Würde es enthüllt, wäre es kein Geheimnis mehr.

Niemals kann ein Geheimnis bewiesen (verifziert) oder widerlegt (falsifiziert) werden. Die subjektive Interpretation, das subjektive Erleben dieses Geheimnisses ist die Glaubenswahrheit. Diese steht weder über der Wahrheit, die Atheisten mit ihrer Sicht der Wirklichkeit verwechseln, noch steht sie unter der Wahrheit, die Naturwissenschafter oft mit verifizierten Thesen verwechseln. Aus philosophischer Sicht bleibt es ein ewiges Rätsel, warum Heerscharen von Theologen ihr Leben der „Erforschung“ und „Erkenntnis“ dieses Geheimnisses widmen. Auch Küng, der seinem Wesen nach immer Theologe geblieben ist.

Der Glaube ist jener Bereich, wo der Mensch die Grenzen der Erkenntnis erreicht hat. Die volkstümliche Wahrheit „Glauben heißt nichts wissen“, ist ebenso richtig wie falsch. Volkstümlich wird diese Aussage so interpretiert, dass man glauben müsse, wann immer man nicht „genug wisse“. Daraus folgt: wer glaubt ist dumm, wer etwas weiß ist gescheit. Immanuel Kant hat dagegen in der Kritik der reinen Vernunft die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis ergründet, um an den Grenzen der Erkenntnis Platz für den Glauben zu schaffen. "Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen", lautet Kants legendäre Formulierung. Den Glauben an eine „atheistische Göttin Vernunft“ hat Kant weder begründet, noch gepredigt. Im Gegenteil! Glaube bedeutet nicht nur „nicht wissen“, sondern auch: hoffen. Ganz im Sinne von Kants drei Grundfragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Letztere ist die genuine Frage aller Religionen. Erstere die Frage aller Wissenschaften. Und dazwischen steht die Moral – hier müsste auch das Weltethos seine Begründung und seinen Wirkungsbereich finden.

Was ist der Unterschied zwischen Glaubenswahrheit und Wahrheit? Was ist „die Wahrheit“? Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm – im wörtlichen und im metaphorischen Sinn unzweifelhaft eine Wahrheit. Es gab immer Kriege in der Geschichte der Menschheit – eine erschütternde und frustrierende historische Wahrheit. In beiden Fällen kann man aber auch eine subjektive innere Wahrheit vertreten, das bedeutet: etwas anderes glauben (und hoffen!). Ich persönlich glaube, dass das Kind von Eltern, die schwere Alkoholiker waren, zu einem Asketen werden kann. Ich glaube, dass sich die Geschichte ändern kann und eine Zukunft ohne Kriege möglich ist.

Was ist „die Wahrheit“? Diese Frage wurde im vorigen Absatz nicht beantwortet, sondern elegant mit Beispielen umschrieben, genauer gesagt: umgangen. Die Offenlegung dieser Tatsache (umgangssprachlich könnte man durchaus sagen: die Offenlegung dieser Wahrheit) entspricht der Forderung von Küng, Selbstkritik zu üben. Nun aber die definitive Antwort. Vorweg: jede Definition besteht aus Eingrenzung und Ausgrenzung.

Innerhalb der Eingrenzung findet sich der Begriff „Idee“, konkret die Aussage: Die Wahrheit ist eine Idee. Hier ist es nicht notwendig, den Begriff der Idee von Platon bis Kant bis auf seine tiefsten Schichten zu entfalten. Es reicht, den Begriff „Idee“ abzugrenzen von „Illusion“, „Halluzination“, „Phantasie“, „Einbildung“, „Vorstellung“, „Anschauung“ „Wahrnehmung“ und allen anderen „Gedanken“ die Teile von „Tagträumen“, „Überlegungen“ oder „Spekulationen“ sind, oder in solche übergehen können. All diese Phänomene sind keine Ideen und werden daher ausgegrenzt. Die Eingrenzung soll hier ergänzt werden durch die Aussage: Die Wahrheit ist eine Idee, so wie Freiheit und Gerechtigkeit Ideen sind.

Wer immer nach ethischen Grundwerten sucht, wird die Begriffe Freiheit und Gerechtigkeit finden. In allen Religionen und in allen Weltanschauungen aller Zeiten. Wer den Begriff der Idee nicht verstanden hat, kann leicht empirisch beweisen, dass Freiheit und Gerechtigkeit nicht existieren. Es ist eine Tatsache, also eine historische Wahrheit: noch nie in der Geschichte der Menschheit gab es eine Periode, in der Freiheit und Gerechtigkeit verwirklicht wurden. Doch darf man deshalb behaupten, es sei eine „Wahrheit“, dass es Freiheit und Gerechtigkeit „nicht existieren“ und nie existieren werden, weil sie nie existiert haben? Darf man deshalb nicht die Glaubenswahrheit verbreiten, dass Freiheit und Gerechtigkeit grundsätzlich möglich und somit realisierbar sind?

Wenn in dieser kurzen Kritik des Projektes Weltethik die großartigen Leistungen und Visionen von Hans Küng, ebenso wie seine Analyse des „Zeitgeistes 1990“ zu wenig gewürdigt wurden, so soll folgendes Zitat ein versöhnender Abschluss sein: „Warum sollte die Menschheit, die in ihrer langen Geschichte bestimmte Bräuche wie Inzest, Kannibalismus und Sklaverei abgeschafft hat, in einer völlig neuen weltgeschichtlichen Konstellation etwa nicht auch die Kriege aufgeben können?“ (117)