Leitl Christoph: Europa und ich

Eine politische und persönliche Zeitreise

Ecowing Verlag, Erscheinungstermin: 21.3.2024

Leitls Glaubensbekenntnis heißt Europa: „Ich bin im Sternzeichen Europas geboren.“ Das wichtigste Datum der jüngeren Geschichte ist für ihn der 5. Mai 1949, als sich „in London zehn Staaten unseres Kontinents im Europarat zusammenschlossen.“ Damit wurde eine Vision wahr, „die der französische Schriftsteller, Politiker und Humanist Victor Hugo bereits hundert Jahre davor zu entwerfen wagte. Im Sommer 1849 hielt Hugo am Pariser Weltfriedenskongress eine Rede, in der er eine Zeit beschwor, in der die Staaten Europas sich ‚zu einer höheren Gemeinschaft zusammenschließen und die große europäische Bruderschaft begründen werden’. Zu Hugos Lebzeiten, während und nach den napoleonischen Umwälzungen des Kontinents, setzte der Nationalismus gerade an, um Europa immer wieder in Krieg und Elend zu stürzen. Umso mehr imponieren mir Victor Hugos Mut und seine Zuversicht, eine Zeit vorauszusagen, ‚wo es keine anderen Schlachtfelder mehr geben wird als die Märkte, die sich dem Handel öffnen, und die Geister, die für die Ideen geöffnet sind. Ein Tag wird kommen, wo die Kugeln und Granaten von dem Stimmrecht ersetzt werden...‘Der 5. Mai 1949 war dieser Tag. … . Der Zufall, ich sage ‚gutes Schicksal’ dazu, wollte es, dass ich im Jahr der Gründung des Europarats auf die Welt gekommen bin. Auf das dadurch gelegte Fundament konnte ich mein privates, berufliches und politisches Leben bauen.“

Leutl Europa Ziegel

Das neue Buch, das Chistoph Leitl sich und der EU zum 75. Geburtstag geschenkt hat, enthält:

- Die Biographie eines Politikers, der die Zeitgeschichte Österreichs und Europas prägte

- Ein Rückblick auf 75 Jahre Geschichte der EU

- Ein Plädoyer für europäische Werte und politisches Engagement

- Eine Vision der Zukunft Europas in einer globalisierten Welt 

Dreimal hat WK-Präsident Christoph Leitl den russischen Präsidenten Putin eingeladen: 2001, 2007 und zuletzt 2014. Damals antwortete Putin auf Leitls Begrüßung mit ironischem Fingerzeig: „Diktator“. Neben dem russischen Präsident saß Österreichs Bundespräsident, der bestens gelaunte Heinz Fischer.

In seinem neuen Buch, erwähnt Leitl diese Treffen nicht. Nur zwei Mal schreibt er über Putin:

1. „Im Unterschied zu Gorbatschow war Jelzin nicht in der Lage, Russland auf eine adäquate demokratische und rechtsstaatliche sowie wirtschaftlich taugliche Reiseflughöhe zu bringen. Jelzin geriet in Turbulenzen. Wladimir Putin kam an die Macht. Seine später immer autoritärer werdende »Fasten seat belt«-Politik brachte Russland auf einen Konfrontationskurs, an dessen vorläufigem Ende der Angriffskrieg gegen die Ukraine steht. Folgende Überlegung sei an dieser Stelle gestattet: Wenn Europa einen Bruchteil dessen, was wir jetzt in die Finanzierung dieses Krieges und seiner Folgen investieren müssen, damals für die Unterstützung Gorbatschows bereitgestellt hätte, wäre Russland heute mit großer Wahrscheinlichkeit ein demokratisches Land in einer Partnerschaft mit der europäischen Familie.“ (93) Nachsatz: „Für mich liegt die eigentliche Ursache der heutigen katastrophalen Situation im auch vom Westen mitverschuldeten politischen Ende von Michail Gorbatschow. Ein Held ist gefallen, Europa hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.“ (94)

2. „Wladimir Putin hat seinen im Februar 2022 begonnenen Angriffskrieg gegen die Ukraine schon verloren. Militärisch ist ihm nicht der Coup gelungen, den er wollte, politisch ist er auf der Verliererstraße. Was hat er erreicht? Europa ist nicht auseinandergefallen, sondern hat sich in neuer Solidarität gefunden. Die NATO ist nicht schwächer geworden, sondern hat sich erweitert. Und das Schlimmste: Er musste sich mit China arrangieren und wird sich, lang fristig gesehen, diesem unterordnen müssen. (149)

ad 1:

Gorbatschow ist der Held der EU-Osterweiterung aber der Antiheld Russlands. Das Scheitern Jelzins blieb ihm als Beobachter erspart. Doch im Unterschied zu Gorbi, der die Öffnung hundertfach angekündigt hatte, hat sie Jelzin vollzogen. Die Öffnung Russlands bedeutete: Einführung des Kapitalismus, der von Anfang an als Raubtierkapitalismus sein wahres Gesicht zeigte. Das implizierte: Ende des Sozialstaates, gallopierende Inflation und Entwertung des Rubel (der 70 Jahre lang keine Inflation kannte), sowie kapitalistische Usurbation von Land und Industrie mit tatkräftiger Unterstützung neoliberaler US-Berater. „Prichwatisatia“ war die doppeldeutige russische Bezeichnung der Privatisierungs-Periode, die Glasnost ablöste. Bei dieser Perestrojka (=Umbau) war die Demokratie nur ein Mascherl. Und so ist es bis heute geblieben.

Mangelnde Demokratie kann man also nicht Putin zur Last legen, sondern, wenn überhaupt, den „Entwicklungshelfern“ der Transformation. Mangelnde Demokratie kann man Putins Russland vor allem deshalb nicht zur Last legen, weil es weltweit kein Vorbild gibt, das man Russland als Alternative anbieten könnte. Die USA sind eine Plutokratie, das Schweizer Kantönlimodell ist auf den größten Staat dieser Erde nicht ausrollbar, und die EU und ihre Räteregierung hat die Rolle der Sowjetunion übernommen. Der Vorhalt, Russland sei keine „echte Demokratie“ aus dem Mund eines ehemaligen Putinfreundes und immer noch einflussreichen Europäers, ist daher herablassend. Damit soll nicht die tadellose Haltung Leitls kritisiert werden, sondern die selbstgefällig Position, die der „Westen“ gegenüber dem „Osten“ einnimmt: Wir haben Demokratien seit einem Jahrhundert, deshalb sind wir die besseren Demokraten. Die „unterentwickelten“ Länder können daher nur vom Westen lernen, niemals wir vom Osten, oder gar von einem, der nach neuester West-Propaganda „das Böse“ personifiziert.

Leitl selbst sieht die Demokratie-Defizite in der EU. Insbesondere kritisiert der das Einstimmigkeits-Prinzip: „Einstimmigkeit ist aus meiner Sicht undemokratisch. Demokratie bedeutet Suche nach Mehrheiten, in wichtigen Fällen mit qualifizierter Mehrheit. Die Europäische Union hat in vielen Fragen diese qualifizierte Mehrheit, und das ist ein kluges Instrument. Es hat nur den Nachteil, dass es in wichtigen Fällen, zum Beispiel in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik oder in der Außen- und Sicherheitspolitik, nicht angewendet werden darf. Das eröffnet einer Erpressung durch ein einziges Land Tür und Tor.“ (120)

Abgesehen von dieser Systemkritik fehlt Leitl jedoch der kritische Blick auf die laufende Demontage der Demokratie und unserer Grundrechte durch die EU, sowie der Herrschenden in den EU-Mitgliedsstaaten. „Die Errungenschaft grenzenloser Mobilität in Europa und der europäische Grundpfeiler der Reisefreiheit werden seit der Corona-Krise durch ständig mehr werdende Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums teilweise zurückgenommen“ (102f), ist das schärfste, was Leitl an Kritik der Corona-Herrschaft vorbringt. Geheime Vereinbarung der Kommissionspräsidentin von der Leyen mit Big Pharma und Vergeudung von Milliarden zum angeblichen Schutz der Bevölkerung sind ihm nicht aufgefallen oder nicht in Erinnerung.

ad 2:

Angesichts der wachsenden Zahl an Kriegstreibern in hohen politischen Ämtern der EU und der EU-Staaten, ist die Kriegsanalyse von Leitl gefährlich oberflächlich. Dass er den üblichen Begriff „Angriffskrieg“ übernimmt, ohne historische Ursachenforschung zu betreiben, ist dabei noch das geringste Defizit. Schlimm ist die Antwort auf die rhetorische Frage „Was hat Putin erreicht?“ Nichts, denn „Europa ist nicht auseinandergefallen, sondern hat sich in neuer Solidarität gefunden. Die NATO ist nicht schwächer geworden, sondern hat sich erweitert.“ Dies Antworten implizieren, dass gerade das – die Zerschlagung der EU und der NATO - die Kriegsziele von Putin gewesen wären oder immer noch seien. Und das ist nicht nur oberflächlich betrachtet, sondern prinzipiell falsch.

Was Putin „wirklich will“ sollen berufenere Politik-Spekulanten und Kreml-Astrologen beantworten. Hier kann nur jener Teil von Leitls Aussagen bewertet werden, de sich auf die EU bezieht: „Europa hat sich in neuer Solidarität gefunden.“ Tatsächlich? Solidarität der Herrschenden aller Länder, ja. Aber immer weniger Solidarität der Eliten mit den Bürgern ihrer Länder, deren Willen sie als politische Repräsentant gemäß demokratischer Grundprinzipien eigentlich umsetzen müssten!

Im Schlusswort bekennt Leitl: „Die Polarisierungen zwischen links mit übertriebenen Gender- und Queer-Positionierungen und rechts mit einer oft undifferenzierten Bekämpfung derselben erzeugen emotionelle und politische Spannungen, verbunden mit Vertrauensverlust in der Gesellschaft gegenüber Institutionen, gegenüber politischen Parteien und schließlich schwinden der Zustimmung zu den Fundamenten sozialer Marktwirtschaft und Demokratie. Wo bleiben Augenmaß, wo bleibt Solidarität, wo bleibt Empathie? Wir brauchen Kooperation statt Konfrontation auch und gerade bei uns in Europa. … Viele Fragen, wenig Antworten. Und jedenfalls zu wenig gemeinsames Besinnen auf übergeordnete Interessen, dafür viel mehr Lobbyieren in Partikularforderungen.“ (178)

Die Polarisierung findet schon lange nicht mehr zwischen rechten und linken Extremen statt. Das Poem von Ernst Jandl, „manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht velwechsern / werch ein illtum“ ist aktueller denn je. Leitl selbst bestätigt, dass links und rechts gleichermaßen die Populisten an Zulauf gewinnen. Leitls Irrtum besteht jedoch darin, dass er die Herrschaften der „Neuen Wirklichkeit“ für die Mitte hält. Tatsache ist: diese Herrschaften, zu denen Leitl als amtierender Präsident der Europäischen Wirtschaftskammer und Präsident der „Europäischen Bewegung“ EBÖ immer noch beste Verbindungen pflegt, betrachtet Mitglieder aller Bewegungen der Zivilgesellschaft und APO (außerparlamentarische Opposition), nicht aus der Position der Mitte, sondern von oben herab! Die Diffamierungen von Systemkritikern durch Begriffe wie „Schwurbler“, „Querdenker“ oder „Verschwörungstheoretiker“ kommen von da oben!

Als Teil des Establishments, der schon als europabegeisterter Jugendlicher von seinem politischen Gegner Bruno Kreisky ernst genommen wurde und wertvolle Ratschläge erhielt, hat Leitl zwar in frühen Jahren Widerstand gegen seine Europabegeisterung erlebt, aber nie Ausgrenzung! Das aber ist die Ursache der Spaltung Europas: die Ausgrenzung der kritischen Bürger aus den Apparaten (Behörden, Interessenvertretungen) sowie den geschlossenen Anstalten (Parteien), wo heute die 68er sitzen, die „den Marsch durch die Institutionen“ geschafft haben (Leitl zählt sich selbst dazu). Die etablierten Parteien und staatstragenden Organisationen, die sich als allein legitime Vertreter der Gesellschaft und damit als allein legitime Vertreter der Demokratie halten, sind für die Spaltung der Gesellschaft verantwortlich. Allein verantwortlich! (Siehe: Machtmissbrauch durch Parteienförderung.) Anders gesagt: die Spaltung der EU hat innerhalb aller EU-Staaten stattgefunden. Putin hat damit nicht das geringste zu tun. Und Putin könnte, wenn die EU eine echte Demokratie wäre (was Leitl ja immer noch glaubt), damit gar nichts zu tun haben, selbst wenn er wollte.

Eine Frage am Rande: ist es nicht absurd, dass die Herrschenden Europas die „Populisten“ für die größte Gefährdung des Volkes halten? Zur Erinnerung: das Volk = Lateinisch populus = Griechisch demos. Müsste nicht jeder Demokrat Populist sein, umso mehr jeder Repräsentant des Volkes? „Viele Fragen, wenig Antworten.“

Zurück zu Leitls Aussage „Die NATO hat sich erweitert.“ In dieser simplen Formulierung findet sich die Ursache für den Ukraine-Russland-Krieg, die Leitl nicht gesucht und daher auch nicht gefunden hat. Eingebunden im europäischen Mainstream ist mit dem immer wiederkehrenden Propagandabegriff „Angriffskrieg“ alles gesagt, nämlich: Wir im Westen sind die Guten. Die NATO und alles, was sie tut, ist gut; alle, die sich ihr entgegenstellen sind unsere bösen Feinde; die Ukraine verteidigt unsere Demokratie, deshalb braucht sie die Waffen unserer Demokratie, insbesonders Panzer und Raketen.

Leitl zitiert Kreisky, der dem jugendlichen Vorsitzenden des Europaclub Anfang der 1970er erklärte: „‘Schauts her, wenn ihr jungen Europäer euer Ziel erreichen wollt, dass Österreich der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitreten kann, dann brauchen wir das Einverständnis von Russland dafür.‘ Das bekämen wir aber nur in einem Klima der Verständigung und des gegenseitigen Vertrauens, so Kreisky.“ (50) Dazu passt die rhetorische Frage Leitls: „Wo bleiben Augenmaß, wo bleibt Solidarität, wo bleibt Empathie? Wir brauchen Kooperation statt Konfrontation auch und gerade bei uns in Europa.“

LEITL UND ICH: Meine Stimme für Europa habe ich in der Österreichischen Botschaft in Moskau abgegeben. Im Juni 1994 ging mein fünfjähriger Lehrauftrag an der Moskauer Linguistik-Universität zu Ende. In Österreich wollte ich danach eine auf russische Kunst spezialisierte Galerie gründen. Das war meine Idee – ich hatte weder Kapital, noch Erfahrung im Kunstgeschäft. Diese Idee, die ich in den folgenden 30 Jahren auch realisiert habe, hat wesentlich meine Entscheidung für Europa beeinflusst, denn offene Grenzen haben für Galeriegeschäfte offensichtlich Vorteile. Die Nachteile geschlossener Grenzen und des Visa-Regimes mit jeder Menge Bürokratie habe ich fünf Jahre lang bei zahlreichen Auslandsreisen meiner russischen Freunde erlebt. Die Entscheidung für Europa fiel mir trotzdem schwer, denn nachdem ich ab 1989 das Ende der Sowjetunion „live“ miterlebt habe, schien mir die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass ich nun für die Erschaffung einer neuen Sowjetunion (= Räteunion) stimme. Und so ist es auch gekommen.

Meine Hoffnung, dass alle Ideale der EU, die Christoph Leitl in seiner Jugend vor Augen hatte, und an die ich damals auch glaubte, in Erfüllung gehen würden, hat noch einige Jahre angehalten. Doch die Auswüchse der EU, die sich immer mehr anmaßte, die Inhalte der Politik zu bestimmen, anstatt den Rahmen vorzugeben, wurden mehr und mehr.

Vorschriften über Gurkenkümmungen, Ersatz der Glühlampen durch deutlich umweltschädlichere Energiesparlampen (zum Zeitpunkt der Verordnung bereits eine antiquierte Technologie) bis hin zu Regelung, wie ein Verschluss an Plastikflaschen fixiert werden muss, sind Beispiele für die totale Überregulierung. Anderseits hat die EU – auch Leitl weist darauf hin – bis heute keine Regulierung der Spekulationen an den Finanzmärkten, ja nicht einmal eine Transaktionssteuer zustande gebracht. Das Projekt „Green Deal“ basiert auf einer Klima-Ideologie, die – typisch Diktatur – nicht diskutiert wird, sondern mit allen Mittel exekutiert wird, so wie seinerzeit die Fünfjahrespläne in der Sowjetunion. Der Irrglaube an die Planbarkeit unserer Zukunft hat sich sogar verstärkt, die Pläne umfassen heute 10, 20 oder gar 50 Jahre; sie heißen Agenda 30, Agenda 40 usw. Die Umsetzungsverordnugnen des "Green Deal" werden immer mehr zu Verordnungen eines totalen Überwachungsstaates.

EU aktuell: „Die Umweltschutzorganisation Greenpeace hat den Entwurf zur EU-Saatgutreform analysiert (https://act.gp/Saatgutverordnung) und warnt davor, dass die Sortenvielfalt und kleine Saatgutproduzenten gefährdet werden.“ (Greenpeace via APA / OTS, 18.3.2024)

Christoph Leitl ist – so seine Legende – mit Europa geboren und hat für Europa gelebt. Man kann ihn nicht dafür kritisieren, dass er immer noch daran glaubt. Wer allerdings, nach dreißig Jahren Erfahrungen als EU-Mitglied, immer noch behauptet, dieses Europa sei das, von dem er träumte, diese EU sei alternativlos, der hat jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufgegeben. Ich persönlich glaube an eine bessere Zukunft, in der offene Diskussionen wieder möglich sind. Das impliziert auch die ergebnisoffene Diskussion über den ÖXIT.

SIEHE AUCH: Hannes Hofbauer, Europa. Ein Nachruf