Der Verlag Benevento kündigt das Buch des Literaturwissenschaftlers Jürgen Wertheimer so an: "Kant für Anfänger: Die Grundfragen der Philosophie und der Geist der Aufklärung. Immanuel Kant erscheint heute oft wie ein Koloss, der die Menschen vor Ehrfurcht erstarren lässt. Dem wirkt Jürgen Wertheimer mit seinem Kant-Lesebuch auf unterhaltsame Weise entgegen. Dafür verpackt er die großen und kleinen Dinge rund um Leben und Werk des Philosophen in 24 erhellende Episoden."
Foto CC BY-SA 3.0: Jürgen Wertheimer im Dialog beim 7. Tübinger Bücherfest (Mai 2011)
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Vielleicht kann man mit Anekdoten über das Leben Immanuel Kants, seine Gewohnheiten und teilweise skurrilen Verhaltensweisen, auf die grundlegenden Konzepte seiner Philosophie überleiten. Man kann aber daraus sicher keine Rückschlüsse auf seine Denkungsart ableiten. Der Literaturwissenschafter trifft in seinen Erzählungen durchaus den Charakter einer Zeit, die sich normaler Weise im Tempo eines Fußgängers bewegte und deren Spitzengeschwindigkeit in der Bewältigung von "Raumzeiten und Zeiträumen" Jahrtausende vor und noch ein paar Jahrzehnte nach Kant die Pferdekutsche vorgegeben hatte. Doch an der Interpretation der Ideen, Urteile und Konzeptionen von Kant scheitert der Literaturwissenschafter. Seine Ausführungen können aber als Ausdruck des Zeitgeistes unseres Jahrhunderts gelesen werden.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts bedeutet Zeitgeist die Summe aller Vorurteile, die sich oft nicht bewahrheitet, aber meist mit Mitteln politischer Propaganda durchgesetzt haben. Der Geist als Zeitgeist existiert für Kant nicht, erst bei Hegel nimmt er unterschiedliche Gestalten an, von der "sinnlichen Gewissheit" bis zum "absoluten Wissen". In dieser Denktradition wäre der "Zeitgeist 2020", seit Ausbruch der Corona-Herrschaft, das "ominöse Wissen" oder das "absolute (d.h. von wissenschaftlicher Theorie und empirischer Verifizierbarkeit losgelöste) Expertenwissen".
Weder der Begriff "Zeitgeist", noch "Geist" tauchen im Sachregister der "Kritik der reinen Vernunft" auf. Hier geht es um Bewusstsein, Erkenntnisse a priori und a posteriori, Anschauungen, Begriffe, Wahrnehmungen, Einbildungs-, Vorstellungs- und Urteilskraft, Ideen, Grundsätze, Kategorien, Vernunft, Verstand uvm. Das "Geschäft der Kritik" wie Kant formuliert, ist es, die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis zu er-gründen und zu be-gründen und damit die Grenzen der Erkenntnis (d.h. die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit) aufzuzeigen.
Das Begreifen dieser Welt bedeutet für Kant die Bildung und Begründung von Begriffen. Die legendäre Aussage Kants, "Der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor", interpretiert Wertheimer salopp: "Unser Gehirn erschafft unsere Welt." Und er lässt seiner Fantasie freien lauf, wenn er schreibt, was seiner Ansicht nach die Position Kants sei: "Die schlichte Tatsache, dass der Mensch vor allen Dingen ein Wesen ist, das die Welt durch seine Sinne wahrnimmt. Und sich dann aus Tausenden von äußeren Eindrücken und Impressionen, Klängen, Bildern, Gerüchen, seine eigene Welt ersinnt, imaginiert und zusammenfantasiert." Diese Formulierung trifft die Quintessenz der Zeitgeistes des 21. Jahrhunderts; sie ist allerdings das genaue Gegenteil der Positionen von Immanuel Kant.
Die Bereiche der Sinneswahrnehmung (Schauen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) setzt Wertheimer pauschal mit "Gefühlen" gleich und reduziert den Prozess der Erkenntnis auf diesen Bereich. Das Ergebnis ist primitiver Subjektivismus, aus dem folgt: jeder Mensch hat seien eigene Anschauungen, Erfahrungen und Wahrheiten. Das ist genau das Gegenteil von Kants Bemühungen, die Begriffe der Vernunft objektiv von den subjektiven Wahrnehmungen zu scheiden und zu trennen (so die Übersetzung des griechischen "krinein", die ethymologische Wurzel des Wortes "Kritik"). Im unterschied zu heutigen Diskussionen, die meist ohne Ergebnis bleiben aufgrund der Beliebigkeit der Begriffsbedeutungen, suchte Kant nach objektiven Definitionen der Begriffe; das impliziert Abgrenzung, Eingrenzung und Ausgrenzung. Nicht nur auf semantischer Ebene, sondern auch ontologisch und epistemologisch.
Über die geografischen Grenzen von Königsberg ist Kant bekanntlich kaum hinaus gekommen. Wertheimer erzählt über die weltweiten Handelsgeschäfte der Kaufleute Motherby und Green, die Kant am Mittagstisch häufig Gesellschaft leisteten: "Motherby und Green waren ihm nützlich, weil sie ihm halfen, eine gewisse Ordnung in seine bescheidenen Geldgeschäfte zu bringen. Für sie war es ein Leichtes, Kant einige Anlagen zu verschaffen, die Rendite versprachen, oder die Einkünfte aus seinen Büchern zu kontrollieren. Doch das war nicht das Entscheidende. Das Entscheidende war, dass das radikale Böse, über das er sich immer Gedanken machte, möglicherweise in den Börsen begangen wurde, nicht in der Hölle. Dort, wo nicht das Menschenrecht, sondern das Börsenrecht zählt."
Wertheimer entwickelt den Gedanken weiter: "Der Kern des radikalen 'Bösen' lag im menschlichen Verstand. Lag in der Art und Weise, wie er sich um der bloßen Vorteile willen von den Maximen der Sittlichkeit frei machte – sich letztlich davon abschnitt und sich allein der Monade einer eigenen Weltsicht unterwarf. Der 'Markt' war solch eine Monade. Fixiert auf den bloßen Mehrgewinn absorbierte er alle Elemente der Moral und verwandelte Menschen in frei verfügbare Ware."
Weder in der Methode noch im Inhalt sind diese Überlegungen als Beitrag zu einem besseren Verstehen von Immanuel Kants Schriften geeignet. Die Methode Wertheimers ist die freie Assoziation die Methode Kants ist die systematische Kritik. Die Inhalte der hier vorgetragenen Überlegungen können weder aus einer der drei "Kritiken" noch aus der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" abgeleitet werden. Sie sind "Gedanken-Spiele" (so der Titel des 1. Kapitels).
Dazu passt auch der Untertitel des Buches, "Magier der Vernunft". Von Magie, bei der bekanntlich der Schein die zentrale Rolle übernimmt, distanziert sich Kant ebenso wie von der Schulmetaphysik, die endlos mit Scheinargumenten über Scheinprobleme diskutiert. Mit seiner "Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können", will er jede Weltanschauung, in welcher der Schein das Sein dominiert, überwinden, vielleicht auch im Sinne Hegels "aufheben". Diese Interpretation lässt Kants viel zitiertes Bonmot zu: "Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen."
Eine der wichtigsten Manifestationen unseres Zeitgeistes ist die "Political Correctness", eines der Standbeine der Political Correctness ist die immerwährende Wiedergutmachung. Diese impliziert schonungslose Enthüllung des deutschen Antisemitismus (bei gleichzeitiger Duldung des islamistischen Antisemitismus - aber das ist ein anderes Thema). Das Kapitel "Der olle 'Rassist'?" endet mit der "Anmerkung des Autors: Ich würde mir wünschen, dass die von Enthüllungseifer gelenkte Diskussion um vermeintlich rassistische Tendenzen eines Wissenschaftlers der vor 300 Jahren arbeitete, vorbeigehen möge. Aber ich weiß, wie aufgeheizt die Stimmung in dieser Hinsicht derzeit ist."
Wertheimer legt ein Schäuferl nach und erzählt in dem Kapitel über den Rabbinersohn Salomon Maimon, "Ein Autodidakt, der niemals eine Universität besucht hatte und dem es dennoch gelang, sich nicht nur in die Kritik der reinen Vernunft hineinzudenken, sondern auch Schwachstellen darin aufzuspüren. Und bloßzulegen. In seinem ersten auf Deutsch geschriebenen Werk 'Versuch über die Transzendentalphilosophie' (erschienen 1789) unternahm Maimon genau dies. Kant reagiert auf die ihm zugesandte Schrift taktisch klug und zögert nicht, den Verfasser für seinen kritischen Blick zu loben und zu betonen, dass seine Fähigkeit des Argumentierens eine ungewöhnliche Begabung verrate. Dieser anerkennende Brief Kants sollte für Maimon zu einer Art Türöffner werden."
Der betagte Kant fühlte sich zu schwach, um eine weitere Zusendung von Maimon zu beantworten. Wertheimer zieht daraus zweifelhafte Schlüsse: "Kant verwies im internen Kreis lediglich auf sein hohes Alter, das ihm nicht mehr erlaube, 'fremde Ideen' zu berücksichtigen. Noch dazu, wie im Subtext ziemlich deutlich zu spüren ist, wenn diese Ideen aus dem Osten, mehr noch von einem jüdischen Außenseiter kamen. Auch den Vorschlag einer 'Nachbesserung' durch Maimon legte er mit der verräterischen Bemerkung ab, dass 'dergleichen die Juden gerne versuchen, um sich auf fremde Kosten ein Ansehen von Wichtigkeit zu geben'. Da ist er also, der Generalverdacht gegen 'die Juden' und ihre angebliche Neigung zum Schmarotzertum in voller Unverfrorenheit. Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, wie das alles zusammengeht."
"Da ist er also..." Ertappt! Gesucht und gefunden. Schon der Titel des Kapitels, auch wenn verschnörkelt mit Anführungszeichen und Fragezeichen, verweist auf eine Intention, die den Schein der "Anmerkung des Autors" als Scheinheiligkeit entlarvt. Das Kapitel hätte treffender, aber unaufgeregt, den Titel "Kant und die Juden" tragen können, aber nein, es musste "Der olle 'Rassist'?" sein. Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, wie das alles zusammengeht. Erklären lässt sich dieser "Enthüllungseifer" nur mit der ewigen Wiederkehr der Rituale der Vergangenheitsbewältigung, die in dem Fall in der moralinsauren Belehrung gipfelt: "Wenn dieser Mechanismus [des Antisemitismus] selbst bei einem Denker vom Format Kants nachweisbar ist, muss sich keiner mehr wundern, dass ein Jahrhundert später Millionen dieser prekären Wahrnehmungsstörung zum Opfer fielen."
Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, warum Wertheimer kein Buch schrieb über das illustre Leben des schon zu Lebenzeiten missachteten Juden Salomon Maimon, den auch heute kaum jemand kennt geschweige denn schätzt. Statt dessen aber entschied er sich, ein Buch über den hochgeachteten und bis heute viel gerühmten, wenn auch wenig gelesenen, Immanuel Kant in Erwartung mancher Vorlesungen anlässlich des 300. Geburtstages von Kant zu publizieren. Wenn ein vergleichender Literaturwissenschaftler ohne Umwege eine direkte Linie von Kant, über die Aufklärung als "Instrument der Herrschaft und Macht", bis zum Wahnsinn des Nationalsozialismus zieht, dann muss sich keiner mehr wundern, dass im Europa der 2020er Jahre Millionen einer prekären Wahrnehmungsstörung zum Opfer fielen.
Wahrscheinlich muss man noch dankbar sein, dass Wertheimer - aufgrund ähnlich dünner Faktenlage - keine Spekulation losgetreten hat, ob Kant homosexuell war, und dass er diese Neigung, "wie im Subtext ziemlich deutlich zu spüren ist", verdrängt habe, weil er die Homosexualität gemäß der damals üblichen Einschätzung als Krankheit betrachtet habe! Das Kapitel "Kraut, Rüben, Transzendenz", über Kants langjährigen Hausdiener, hätte solche Schmankerl durchaus zugelassen. So schildert Wertheimer: "mit so einem Klotz lebte er nun seit Jahrzehnten unter einem Dach. [...] Warum in aller Welt tat er sich das an? Warum hatte er nicht die Kraft, sich von dieser Kanaille zu trennen? Von einem Wesen, das ihm die Brüchigkeit seiner Thesen und Maximen tagtäglich vor Augen führte." Da hat der vergleichende Literaturwissenschaftler das Repertoire psychoanalytischer Betrachtungsweisen auf den Spuren von Sigmund Freud bei weitem nicht ausgeschöpft.
Die philosophischen Grundlagen von Kant hat Wertheimer nicht erhellt, oft sogar falsch verstanden. Sein Buch ist somit für "Anfänger" nicht geeignet - eher als Lektüre für jene, die eine von Kants "Kritiken" wenigstens ansatzweise gelesen haben, als amüsante Unterhaltung und als Manifestation des Zeitgeistes, 220 Jahre nach dem Tod des Königsberger Philosophen.
Jürgen Wertheimer
Immanuel Kant. Der Magier der Vernunft in 24 Episoden
Verlag Benevento, 2023
SIEHE AUCH: Antisemitismus-Studie 2022
Die Irrtümer der Gedenkpolitik, von Rudolf Burger