Havel Václav: Versuch in der Wahrheit zu leben

Kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, publizierte der Rowohlt Verlag die Denkschrift des tschechischen Dichters Václav Havel unter dem Titel „Versuch in der Wahrheit zu leben“. Der Titel bezieht sich auf das Leitmotiv dieses Buches, das aus der langjährigen Erfahrung des Autors mit einem „Leben in der Lüge“ resultiert. Der Originaltitel von Havels Essay, der bereits 1978 erschienen ist, lautet übrigens „Moc bezmocnych“ was wörtlich übersetzt „Die Macht der Machtlosen“ heißt.

Václav Havel 2009

Foto CC BY-SA 2.5: Václav Havel auf dem Wenzelsplatz (Tschechisch: Václavské náměstí) am 17. November 2009 zum 20. Jahrestag der Samtenen Revolution.

Das Sowjet-Regime und damit auch die Tschechoslowakei nach 1948 bezeichnet Havel als „posttoatlitäre Diktatur“, die er von „klassischen“ Diktaturen unterscheidet. Die „klassischen“ Diktatoren sind demnach ein temporäres Phänomen, das direkt an die Willkürherrschaft eines Diktators und seines Machtapparats (insbesondere Polizei und Militär) geknüpft ist. Die „posttotalitäre“ Diktatur stützt sich dagegen auf eine Ideologie, die alle Lebensbereiche der Bevölkerung infiltriert hat: „Das posttotalitäre System verfolgt mit seinen Ansprüchen den Menschen fast auf Schritt und Tritt“, so Havel, der diese Verfolgung von Jugend auf zu spüren bekommen hat, weil er nie „mit der Lüge leben“ wollte.

Wegen seiner unablässigen Versuche in der Wahrheit zu leben, wurde Václav Havel dreimal inhaftiert, insgesamt fünf Jahre seines Lebens verbrachte er im Gefängnis. Zuletzt wurde er im Februar 1989 als „Wiederholungstäter“ zu neun Monaten verschärfter Haft verurteilt. Am 29. Dezember 1989 wurde er als Kandidat des Bürgerforums zum ersten nichtkommunistischen Präsidenten des Landes gewählt.

Was Havel unter Wahrheit versteht, macht er in Erörterung seiner Weltanschauung deutlich: „Zwischen den Intentionen des posttotalitären Systems und den Intentionen des Lebens klafft ein Abgrund: Das Leben tendiert in seinem Wesen zur Pluralität, zur Vielfarbigkeit, zur unabhängigen Selbstkonstitution und Selbstorganisation, einfach zur Erfüllung seiner Freiheit. Das posttotalitäre System dagegen verlangt monolithische Einheit, Uniformität und Disziplin. Das Leben versucht immer wieder, immer neue 'unwahrscheinliche' Strukturen zu schaffen, das posttotalitäre System dagegen zwingt ihm die 'wahrscheinlichsten Zustände' auf. […] Das 'Leben in Wahrheit' hat im posttotalitären System nicht nur eine existenzielle Dimension (es bringt den Menschen zu sich selbst zurück), nicht nur eine noetische (es enthüllt die Wirklichkeit wie sie ist) und nicht nur eine moralische (es dient als Beispiel). Es hat dazu noch eine deutliche politische Dimension.“

Einer von vielen Dissidenten

Das Leben und Wirken von Václav Havel würde man philosophisch und politisch nicht richtig verstehen, wenn man ihn als „Antikommunisten“ bezeichnen würde, ja sogar die Titulierung als „Dissident“ lehnt er ab. Philosophisch deshalb, weil er seine Weltanschauung nicht negativ aus der Gegnerschaft zum posttotalitären Regime definiert, sondern positiv wie oben zitiert. Und politisch deshalb, weil er die selektive Wahrnehmung (auch der westlichen Medien dieser Zeit) ablehnt, die einige wenige hervorhebt „ohne daß man zuerst über die Arbeit all jener spricht, die sich auf die eine oder andere Weise an dem 'unabhängigen Leben der Gesellschaft' beteiligen und die gar nicht für 'Dissidenten' gehalten werden müssen.“

30 Jahre nach dem Ende des Kommunismus lehnen sich manche selbstzufrieden zurück in der Überzeugung, das Gute in der Welt habe gesiegt und das „Leben in der Wahrheit“ sei nun für jeden - zumindest im Westen - möglich. Die Überlegungen von Václav Havel sind aus dieser Sicht nicht mehr zeitgemäß. Doch diese Selbstzufriedenheit ist die neue Lüge unserer Zeit. Die Systemkritik von Havel ist mehr als aktuell.

Nicht nur, dass man Havels Kritik am „posttoatlitären“ System indirekt auch als Kritik am „postdemokratischen“ System verstehen kann, sondern vor allem deshalb, weil er „die Krise der modernen technischen Zivilisation“ bereits vor 40 Jahren vorhergesehen hat: „Es sieht nicht so aus, als ob die traditionellen parlamentarischen Demokratien ein Rezept zu bieten hätten, wie man sich grundsätzlich der 'Eigenbewegung' der technischen Zivilisation, der Industrie- und Konsumgesellschaft widersetzen könnte. Auch sie befinden sich in ihrem Schlepptau und sind ihr gegenüber ratlos. Nur ist die Art, wie sie den Menschen manipulieren, unendlich feiner und raffinierter als die brutale Art des posttotalitären Systems.“

Den traditionellen Parlamentarismus, wie er im Westen vorherrscht, hat Havel ursprünglich nur als „Übergangslösung“ gesehen. „Sich jedoch an die traditionelle parlamentarische Demokratie als ein politisches Ideal zu klammern und der Illusion zu erliegen, daß nur diese 'bewährte' Form den Menschen eine würdige und mündige Existenz auf die Dauer sichern kann, wäre meines Erachtens zumindest kurzsichtig.“ Passend dazu hat Erhard Busek kritisch angemerkt: "Der 'Westen' hat Marktwirtschaft und radikalen Wettbewerb exportiert, geistig aber herzlich wenig geleistet, um in die Leere der postkommunistischen Zeit auch Wertvorstellungen und Diskussionen einzubringen." (Siehe: "Lebensbilder")

Bleibt die Frage offen, wo wir heute die weitsichtigen Politiker finden, die bereit sind, überhaupt einmal über Alternativen zur real existierenden parlamentarischen Demokratie nachzudenken. Bei den bestehenden Parteien sicher nicht, denn diese sind mehr an der Bewahrung ihrer Pfründe als an einer besseren Zukunft unseres Landes interessiert.

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