Bereits 2020 hat der Religions- und Wertforscher Paul M. Zulehner eine internationale Online-Umfrage in zehn Sprachen durchgeführt, um die Auswirkungen der Corona-Pandemie zu erforschen. Die Ergebnisse wurden Anfang 2021 in seinem Buch „Bange Zuversicht. Was Menschen in der Corona-Krise bewegt“ im Patmos-Verlag veröffentlicht.
Bange Zuversicht. Was Menschen in der Corona-Krise bewegt.
Patmos Jänner 2021
(Verlagsinformation) - Die Coronapandemie hat das Lebensgefühl der Menschen tiefgreifend verändert. Zum Schutz von Risikogruppen wurde vorübergehend das gesellschaftliche Leben zum Stillstand gebracht. Dabei ist die Weltwirtschaft in eine dramatische Rezession geschlittert. Die teils drakonischen Maßnahmen wurde von einem Großteil der Bevölkerungen bereitwillig mitgetragen. Doch bald ist ein engagierter gesellschaftlicher Diskurs aufgebrochen.
Diskutiert wird um grundsätzliche Fragen. Was hat Vorrang: Gesundheit und Sicherheit oder Freiheit und Wirtschaft? Nicht wenige sehen die Pandemie-Krise als Chance für Veränderungen. Sie sehen einen neuen Lebensstil kommen, beobachten eine beschleunigte Digitalisierung und fordern eine Ökologisierung der Ökonomie. Denn die Klimakrise sei weitaus gravierender als die Pandemie und fordere ebenso entschlossenes Handeln. Vom Lockdown betroffen sind auch die christlichen Kirchen und ihre gottesdienstlichen Versammlungen. Die Sorge geht um, dass sich in der Zeit der Pandemie viele Gewohnheitschristen den Kirchen weiter entwöhnt haben. Andere sehen im Rückzug des kirchlichen Lebens aus den Kirchengebäuden in die Häuser eine Chance zu dessen Entklerikalisierung und Erneuerung.
Eine internationale Online-Umfrage in zehn Sprachen hat dazu die Meinungslage in den Bevölkerungen eingeholt. Dabei zeigt sich, dass in all den genannten Fragen die Bevölkerungen, aber auch die Nationen tief gespalten sind. Zudem stehen die Regierenden vor enormen sozialen und klimapolitischen Herausforderungen.
Der Religions- und Wertforscher Paul M. Zulehner legt die Ergebnisse der Studie vor und interpretiert sie pastoraltheologisch.
25. 4. 2025 - Kommentar HTH: „Was Menschen in der Corona-Krise bewegt“, ist der treffende Untertitel des Buches. Bei einer internationalen Online-Umfrage haben über 10.000 Respondenten nicht nur auf vorgegebene Fragen geantwortet, sondern auch den Freiraum für eigene Meinungsäußerungen intensiv genutzt. Das Buch ist somit – im besten Sinne des Wortes – ein Sammelsurium von Meinungen, mit denen man überstimmen kann, oder nicht. Der Grundtenor spiegelt den Mainstream der 2020 publizierten und politisch massiv gesteuerten Ansichten wider. Doch Gegenstimmen werden nicht ausgeklammert oder (wie seit 2020 im wissenschaftlichen Diskurs leider Usus) gar diffamiert.
Zulehner über mögliche demokratiepolitische Auswirkungen der Corona-Krise: „Einige Textschreibende sehen in der angespannten Wirtschaftslage eine ‚Gefahr für die Demokratie’. Diese werde ‚sich im gesellschaftlichen Leben in der Form von Unruhen niederschlagen.“ [….] Es wird folglich mehr Konflikte geben. [….] Eine Befragte ist besorgt, dass ‚bei langfristig schwieriger Wirtschaftslage Populisten (auf der ganzen Welt) wieder mehr Zustrom erfahren‘…“ (133)
Neben zahlreicher Klischees dieser Art gibt es auch Befragte, die gegen den Mainstream schwimmen, z.B: „Das ohne zwingende Not verübte Säureattentat auf unser Kultur-, Gesellschafts- und Wirtschaftsleben hat all jene Elemente zutage treten lassen, die für die Errichtung totalitärer Machtstrukturen günstig sind: Bereitschaft zur Denunziation, gedankenlos sklavische Befolgung moralisch redountabler ‚Gesetze‘ und Erlässe (deren Zustandekommen juridisch fragwürdig ist), maximale Distanzierung zwischen den Menschen, den Generationen und den sozialen Schichten, kritiklose Akzeptanz der ‚régime-conformen‘ Berichterstattung und Desavouierung all jener, die Zweifel äußern und Fragen stellen, als ‚Verschwörungstheoretiker‘.“ (134)
Während die ersten vier Teile des Buches bzw. der Umfrage weltliche Themen aufgreifen (Ängste in der Corona Zeit + Ringen um Freiheit und Solidarität + Alte und Neue Normalität + Zwischen Skepsis und Zuversicht), stehen „Kirchen und ihr Gottesdienst in der Pandemie“ im fünften Teil der Befragung im Mittelpunkt. In Hinblick auf die Auswahl der Befragten legt die gesamte Umfrage Zeugnis davon ab, wo der Geist der Katholischen Kirche heute weht, denn 93 Prozent aller Befragten sind katholisch (rund 20 Prozent davon beruflich in der Kirche tätig), lediglich 3 Prozent evangelisch; der Rest sind Agnostiker oder Atheisten.
Schon im ersten Absatz des fünften Teils finden sich wieder beide Pole: die angepasste Amtskirche und die kritische Basis, die das Format der Umfrage offenbar intensiv genutzt hat, um ihren Überzeugungen Ausdruck zu verleihen.
„Das Zusammenkommen von Christinnen und Christen zu öffentlichen Gottesdiensten in den Kirchen fiel unter das Versammlungsverbot. Die christlichen Kirchen haben diese Verordnung widerspruchslos übernommen. Dass freikirchliche Versammlungen, zumeist in Gemeindehäusern, damit auf engerem Raum als in den großen Kirchen, zu Hotspots wurden [Anm. HTH: Quelle für diese Behauptung fehlt!], hat den Kirchenverantwortlichen Recht gegeben. Und dies trotz Widerspruch einzelner Gruppen in der Kirche, die – wie in der Gesellschaft – eher dem konservativen Flügel zuzuordnen sind. [Anm: HTH: konservativ gegen fortschrittlich? Somit: die angepasste, unterwürfige Amtskirche als Organ des Fortschritts?] So spielt eine Frau Gottvertrauen gegen zugemutete Schutzmaßnahmen aus: ‚Ich spüre, wie Gott für uns sorgt. Wir sollen auf IHN vertrauen und nicht auf gewinnsüchtige Menschen. Meiner Meinung nach geht es den Politikern und Pharmakonzernen nur um Gewinn. Daher die ganze Panikmache! Wir werden im wahrsten Sinne des Wortes ENTMÜNDIGT! (Maksenpflicht).‘ Dass aber die Verantwortlichen sich gegenüber den staatlichen Verordnungen kooperativ gezeigt haben, hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass die Kirchgänger in vielen Gemeinden eher älter sind und daher zu den Risikogruppen gezählt wurden.“ (171)
Es ist wohl für viele (auch 5 Jahre nach Ausbruch von Corona) einen Neuigkeit, dass sich neben homeofffice und homeschooling auch homeservice etabliert haben. Dazu haben Online- und Fernsehmessen beigetragen, aber auch so genannte Hauskirchen. „Dieser Begriff ist bibeltheologisch nicht sehr glücklich“, meint Zulehner, „weil er die Gefahr eines unbiblischen ‚Familialismus‘ in sich birgt.“ (189) Das ist einerseits das Argument eines Würdenträgers, der Gefahren für den herkömmlichen „Pastoralebetrieb“ sieht; anderseits ist er offen für neue Entwicklungen; so zitiert der Autor folgende Meinung eines Teilnehmers: „In der katholischen Kirche muss die Frage nach Vollmacht, religiöse Feiern zu leiten, neu beantwortet werden. Viele Geistliche gingen auf Tauchstation […] Feiern in der Familie bekamen Gewicht, viele Ehrenamtliche übernahmen den Großteil der online- und offline-Seelsorge. Das muss anerkannt und weitergeführt werden.“ (192)
Im Schlusskapitel „Zumutungen und Ermutigungen“ fasst Zulehner zusammen: „Jedenfalls wurden in der Pandemie zwei Gottesdienstformate erkennbar, die auch für zwei Kirchenformate stehen: Es ist die Beteiligungskirche von verschiedenen und gut vernetzten Jesusnachfolgern, welche den Armen und Einsamen gute Dienste leistet und hohe Gastfreundschaft lebt. Daneben ist eine Dienstleistungskirche, die qualitativ hochwertige Angebote macht: jetzt virtuell und nicht nur wie sonst mit den im Lockdown heruntergefahrenen Ritualen zu den Lebenswenden. Eine Beteiligungskirche der Entschlossenen allein wird längerfristig zur Freikirche mutieren oder zur Sekte schrumpfen. Eine Dienstleistungskirche allein wird vermutlich rasch erschöpft am Ende sein. Aber die Kombination von beiden könnte ein zukunftsfähiges Kirchenformat ergeben.“
Offenbar hat Corona die von vielen unter den Teppich gekehrte Spaltung der Kirche sichtbar gemacht. So wie auch die Spaltung der Gesellschaft, die in der Studie ebenfalls angesprochen wird. „Ob die Studie zum Brückenbauen beiträgt? Ich wünsche es mir“, so Zulehner abschließend.