EMRK: zeitgemäß und effektiv - EMRK und EGMR

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EGMR Präsidentin Síofra O’Leary in Wien

Verfassungstag / Verfassungsgericht / EMRK / EGMR

2. Oktober 2023 (Pressemitteilung des VfGHMit einem Festakt zum Verfassungstag – dem gestrigen 1. Oktober – erinnert der VfGH alljährlich an den Beschluss des Bundes-Verfassungsgesetzes in der Konstituierenden Nationalversammlung am 1. Oktober 1920. VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter konnte neben O’Leary auch Bundespräsident Van der Bellen, die Bundesminister Edtstadler, Rauch und Zadić sowie zahlreiche weitere Personen als Ehrengäste begrüßen.

„Die auf Regeln basierende, multilaterale internationale Ordnung“, zu der auch die Europäischen Menschenrechtskonvention und der Gerichtshof in Strassburg gehören, „wird häufiger verunglimpft als jemals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“. Dies stellte die Präsidentin des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) Síofra O’Leary als Festrednerin heute am Verfassungsgerichtshof in Wien fest. Gleichzeitig hob sie hervor, dass der EGMR potenziell die letzte Zuflucht für über 600 Millionen Einwohner des Rechtsraumes des Europarats ist.

Überlegungen zur Zukunft des EGMR: Wie wären schnellere Entscheidungen möglich?

Es falle, so Síofra O’Leary – die von Irland ernannte Richterin am EGMR, die seit 2022 dessen Präsidentin ist – am Beginn ihrer Rede, gerade in Wien leicht, den Ursprung der EMRK in den Gräueltaten, die von totalitären Regimen während des Zweiten Weltkriegs auf europäischem Boden und darüber hinaus begangen wurden, zu erkennen.

Schnell jedoch wandte sie sich der Gegenwart und der Zukunft des Gerichtshofes in Strassburg zu und stellte Überlegungen an, wie der EGMR schnellere Entscheidungen treffen könne. Heute sind laut der Präsidentin 75.000 Beschwerden anhängig, bei nur 46 Richterinnen und Richtern. Auch wenn nahezu 75 Prozent der anhängigen Fälle aus Beschwerden bestehen, die sich mit Fragen befassen, zu denen es bereits eine gut etablierte Rechtsprechung gibt oder die repetitiv sind, sind auf der Ebene der siebenköpfigen Kammern immer noch nahezu 20.000 Beschwerden anhängig. Es handle sich, stellte Präsidentin O’Leary fest, um entweder sogenannte „Prioritäts“- oder „Impact“-Fälle, die Fragen aufwerfen, welche umgehender Bearbeitung bedürften.

Erstens könnte sich, so die Präsidentin des EGMR, der Gerichtshof öfters des Zulässigkeitskriteriums „kein erheblicher Nachteil“ bedienen. Dies sei bisher wenig genutzt worden und führe etwa dazu, dass eine Kammer von sieben Richterinnen und Richtern ein Urteil über ein Parkbußgeld von rund 25 Euro, einhergehend mit 5 Punkten im Verkehrsregister des Beschwerdeführers, fällen musste.

Zweitens: „Um mit einer substantielleren Änderung auf der Ebene der Mitgliedstaaten – die die grundlegenden institutionellen Akteure sind, die die Zukunft des Gerichtshofs und des Konventionssystems bestimmen – weiter zu machen: Man könnte darüber nachdenken, einen institutionellen Mechanismus für den Gerichtshof zu entwickeln, der diesem erlaubt, weitergehend diejenigen Fälle herauszufiltern, die eine ,verfassungsrechtliche´ Relevanz für die Rechtsprechung haben.“ O’Leary betonte jedoch, sie habe weder die Absicht noch den Wunsch, in das Terrain von Verfassungsgerichten einzudringen. Die Tatsache, dass der EGMR von Beginn an mit bestimmten „Verfassungs“-Merkmalen ausgestattet worden sei, sei aber schwer zu ignorieren.

Die EGMR-Präsidentin wies auch darauf hin, dass 70 Prozent der anhängigen Fälle aus lediglich vier Staaten stammen (der Türkei, Rumänien, der Ukraine und Russland, von wo vor September 2022 eingereichte Fälle noch anhängig sind). Lediglich 0,12 Prozent der anhängigen Beschwerden stammten aus Österreich: „Dies streicht heraus, dass in vielen der 46 Staaten die Einbettung der EMRK erreicht wurde, die sicherstellt, dass der Straßburger Gerichtshof nur in Ausnahmefällen eingreift“.

VfGH-Präsident Grabenwarter wertete die Begegnung mit Síofra O’Leary sowohl als klares Bekenntnis zu den europäischen Menschenrechten – in Zeiten, in denen diese teilweise in Frage gestellt würden – als auch als Hinweis, wie intensiv der Austausch in der Rechtsprechung zwischen VfGH und EGMR ist, wie der richterliche Dialog funktioniert. Die EMRK sei „seit 65 Jahren so etwas wie das Zentralmassiv der österreichischen Grundrechtslandschaft“.

Als Beispiel für den richterlichen Dialog nannte Grabenwarter eine Entscheidung des VfGH vom Juni dieses Jahres über das Verbot fossiler Treibstoffe. Der VfGH habe in seiner Begründung die sogenannten Schutzpflichten des Staates im Hinblick auf schwerwiegende Umweltbeeinträchtigungen betont und dazu einige sehr konkrete Aussagen getroffen, etwa, dass Schutzpflichten auch in Bezug auf drohende Naturkatastrophen bestehen. Keine dieser Aussagen habe, so Grabenwarter, lange begründet werden müssen; sie seien unter Berufung auf einschlägige Urteile des Strassburger Gerichtshofes in die Entscheidung des VfGH aufgenommen worden.