EMRK: zeitgemäß und effektiv

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+ TEIL 1: Wie die Europäische Menschenrechtskonvention Demokratie und Rechtsstaat schützt

Ein Plädoyer von Hannes Tretter und Marion Wisinger

Publikation auf ethos.at mit Genehmigung der Zeitschrift INTERNATIONAL W/2022

International or.at W 2022

+ TEIL 2:  EMRK pro und contra

Ein Plädoyer für eine sachliche, aber schonungslose Auseinandersetzung mit EMRK und allen anderen Gesetzen, sowie mit den Methoden der Gesetzgebung. Von Hubert Thurnhofer

Tretter/Wisinger: Einmal mehr stand angesichts einer zunehmenden Fluchtbewegung an Österreichs Grenzen nicht die Weigerung der Länder, die vereinbarte Aufnahmequote zu erfüllen, im Zentrum der politischen Debatten. Stattdessen nahm man die daraus resultierenden katastrophalen Lebensverhältnisse der geflüchteten Menschen zum Anlass, mediale Rundumschläge in Grundsatzfragen zu verteilen. Die jüngst aus der Nische eines parlamentarischen Klubs verlautbarte Forderung nach einer „Überarbeitung“ der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) 1950 des Europarats1 und einer Änderung des europäischen Asylrechts bedarf daher nicht nur einer fundierten juristischen Replik, sondern auch einer politischen Analyse. Welche Verwerfungen gehen der Inkaufnahme von unmenschlicher Behandlung, Folter und Tod voraus, was sind die Vorboten der Meinung, dass elementare Menschenrechte nicht mehr zeitgemäß wären?

Die Ursachenforschung bezog sich zunächst auf das eklatante Unverständnis der Bedeutung der EMRK, auch konstatierte man hinlänglich bekannte rechtspopulistische Ablenkungsmanöver angesichts der von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwalt eingeleiteten strafrechtlichen Untersuchungen. Doch über den Benefit medialer Ablenkung hinaus, verweisen Methode und wiederholte Praxis derart gravierender rechtspolitischer Ausrutscher auf Kosten der Menschenrechte auf eine besorgniserregende Entwicklung im gesamteuropäischen Kontext.

Die seit Jahrzehnten von rechtsextremen Parteien betriebene systematische Abwertung des internationalen Menschenrechtsschutzes konnte zunächst in den illiberalen Demokratien Europas Fuß fassen, um nun endgültig in den konservativen Parteien angekommen zu sein. Deren VorreiterInnen zögern nicht mehr, Verfassung und Rechtsstaat schädigende Politiken zu praktizieren, auch der Widerstand in den eigenen Reihen verläuft sich zusehends. Soweit ist dies seit dem Jahr 2000 in Österreich nichts Neues, doch die sprachlich zunehmende Kongruenz mit der Neuen Rechten und identitären Positionen lässt Schlimmes befürchten.

Die jüngsten Parolen des langjährigen Sozialsprechers und Klubobmanns, August Wöginger, der sich nach einem fulminanten Medienecho erst gar keine Mühe gab, diese weiter zu begründen, erregte nicht nur das Wohlwollen traditionell xenophober Komplizen, sondern auch den Beifall bürgerlicher Kreise. Dieses Phänomen ist zwar unter anderem der krisenbehafteten Zeit zuzuschreiben, doch sprechen Soziologen darüber hinaus von einer zunehmend rohen Bürgerlichkeit, deren "Jargon der tiefen Verachtung gegenüber schwachen Gruppen" offenbar gesellschaftsfähig geworden ist. Radikalisierte christlich-soziale Parteien reagieren punktgenau auf soziale Anerkennungsfragen der Mittelschicht und befeuern diese bedenkenlos. Aus der erfolgreichen Taktik türkiser Mehrheitsbeschaffung ist eine mittlerweile mehrheitsfähige Haltung entstanden, die sich der Desavouierung der Demokratie und der Menschenrechte bedient. Die irrige Annahme, dass dies zukünftig zum Vorteil bei der Wählergunst gereichen würde, ist längst widerlegt. Was den in Umfragen absackenden Rechtskonservativen noch bleibt, ist ein weiterer Rechtsruck und die zweifelhafte Themenführerschaft durch Skandalisierung und Tabubrüche.

Die in diesem Zusammenhang ritualisierten Ermahnungen einer "christlichen" Partei laufen ins Leere, da die allgemeine autoritäre Versuchung3 bereits weit fortgeschritten ist. Man versprach den Menschen die Wiederherstellung der Kontrolle und somit die Beendigung ihrer Existenzbedrohung durch die Ausgrenzung der "anderen", dies ist auf weite Sicht irreversibel. Für den entsprechenden ideologischen Umbau der Volkspartei bedurfte es zudem einer Entdemokratisierung, dazu gehören "Message Control", Durchgriffsrechte des Obmanns bei der Besetzung von Posten, intransparente Beraterzirkel, Ausgrenzung interner KritikerInnen und informelle Kommunikationswege. Bashing der Medien und der Justiz ist wiederholt Usus, denn diese könnten als demokratische Instanzen substantiellen Widerstand leisten. Aus dem Minderheitenprogramm des radikalisierten Konservativismus innerhalb der europäischen christlichen Parteien, deren Werte – Ordnung und Eigentum – mittlerweile als antiegalitär und illiberal zu verstehen sind, ist eine autoritären Tendenzen nicht abgeneigte Machtelite geworden.4 Die christliche Anbindung steht auch in Ländern wie Polen, Italien und Ungarn in keinem Widerspruch dazu.

Die menschenrechtlichen Verpflichtungen durch internationale Verträge im Verfassungsrang sind ein Stolperstein auf dem Weg zu einem Populismus auf Kosten der Menschlichkeit. Animositäten der Europäischen Union (EU) gegenüber gehören da zum Tagesgeschäft, auch hier wächst die Schnittmenge mit dem rechten Rand zusehends. Juristisch nicht haltbar ist jedenfalls die grobe Kontextualisierung, dass nämlich eine "Änderung" der EMRK unmittelbare Auswirkungen auf das europäische Asylrecht haben könnte. Diese bereits von Innenminister Herbert Kickl mehrmals ins Spiel gebrachte Feindbild-Kombination, Flüchtlinge-EU-EMRK, fördert die allgemeine Unzufriedenheit mit der EU und stärkt nationalistische Denkweisen. Genau diese sind dafür verantwortlich, dass keine Fortschritte bei der solidarischen Umverteilung von Menschen auf der Flucht nach Europa gemacht werden.

Die EMRK als bindende Rechtsgrundlage ist das „menschenrechtliche Bollwerk gegen Diktatur, Unterdrückung, Willkür und Rechtlosigkeit, und hat die Entwicklung der Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit im europäischen Raum maßgeblich bestimmt“.5Die Effektivität der unzähligen Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg6 evident, haben sie doch die Mitgliedstaaten angehalten, Menschenrechte umzusetzen. Seine Urteile bemühen sich stets um einen angemessenen Ausgleich zwischen menschenrechtlichen Ansprüchen und öffentlichen Interessen. Die vielzitierte „Spaltung der Gesellschaft“, findet hier eine klare Gegenstimme. Die Urteilsfindung beruht auf dem Prinzip der Nichtdiskriminierung, garantiert faire Verfahren und eine unabhängige Justiz, die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft. Immer wieder behandelt der EGMR auch Fragen der Abschiebung von Menschen in Staaten, in denen ihnen eine unmenschliche Behandlung droht, wie Todesstrafe, Folter, unverhältnismäßige Freiheitsstrafen, aber auch durch das Auseinanderreißen von Familien. Ein Dorn im Auge derer, die die Menschenrechte von Randgruppen, Minderheiten, Verfolgten und Flüchtenden eliminieren möchten. In diesem Zusammenhang werden, wie die agitatorischen Beispiele Herbert Kickl 2015 und aktuell August Wöginger zeigen, die EMRK und der EGMR zu Sündenböcken für ein nicht funktionierendes europäisches Asylsystem gemacht, was sie aber nicht sind:

In ihrer Präambel nimmt die EMRK auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 Bezug, die u.a. bezweckt, „die universelle und wirksame Anerkennung und Einhaltung der in ihr aufgeführten Rechte zu gewährleisten"“ und zwar „in der Erwägung, dass es das Ziel des Europarats ist, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herzustellen, und dass eines der Mittel zur Erreichung dieses Zieles die Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist“, die „die Grundlage von Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bilden und die am besten durch eine wahrhaft demokratische politische Ordnung sowie durch ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Achtung der diesen Grundfreiheiten zugrunde liegenden Menschenrechte gesichert werden“ kann.7

Was den Schutz dieser Fundamente der EMRK anbelangt, so ist dieser in Artikel 17 durchaus „streitbar“ angelegt. Er bestimmt, dass kein Staat, keine Gruppe oder eine Person das Recht hat, „eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist“.8 Wer dies dennoch tut, verwirkt seine Rechte. Der EGMR hat in seiner Judikatur zurecht sehr vorsichtig und zurückhaltend agiert, jedoch darauf geachtet, die der EMRK zugrundeliegenden Werte, die demokratischen Gesellschaften zu eigen sind, vor ihrer Zerstörung zu schützen. So sieht der EGMR den Zweck des Artikels 17 darin, Individuen oder Gruppen mit totalitären und menschenfeindlichen Zielen davon abzuhalten, die in der EMRK angeführten Prinzipien für die eigenen Interessen auszunützen. Zu diesen Werten und Prinzipien zählen

  • die Verurteilung und Abwehr totalitärer und anderer nicht-demokratischer politischer Systeme, die im Widerspruch zur Konvention stehen,

  • die Verurteilung der Leugnung des Holocaust sowie anderer Völkermorde und sonstiger Verbrechen gegen die Menschlichkeit,

  • Toleranz und sozialer Friede, die durch Hassrede nicht gefährdet werden dürfen,

  • Gerechtigkeit, verbunden mit politischer Stabilität.

Die nach der Präambel notwendige „Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ hat in die Judikatur des EGMR Eingang gefunden und verhindert, dass die Rechte der EMRK nicht im historischen Verständnis des Jahres 1950, sondern aktuellen Rechtsschutzbedürfnissen angepasst ausgelegt werden, um ihnen zeitgemäße Effektivität zu verleihen.9 Im berühmt gewordenen Urteil Tyrer gegen das Vereinigte Königreich 197810 hat er betont, dass „die Konvention ein lebendiges Instrument ist, das im Lichte der heutigen Verhältnisse zu interpretieren ist“. Diese Weiterentwicklung der Konventionsrechte hat aber vorsichtig zu erfolgen und erlaubt keine „entfesselte“ Auslegung durch den EGMR, wie dessen früherer Präsident Lucius Wildhaber einst betonte,11 woran sich bis heute nichts geändert hat. Vor allem achtet der EGMR dabei Trends in den nationalen Rechtssetzungen und höchstgerichtlichen Entscheidungen.

Von maßgebender menschenrechtlicher und rechtsstaatlicher Bedeutung ist auch, dass die meisten Konventionsrechte12 zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer, aber auch öffentlicher Interessen eingeschränkt werden können, soweit dies gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, u.a. aus Gründen der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral und zur Wahrung der Autorität und Unparteilichkeit der Rechtsprechung. Dabei gilt, dass Eingriffe in diese Rechte verhältnismäßig zu sein haben, indem sie eine Mittel-Zweck-Relation wahren müssen.

Die Judikatur des EGMR hat im Lauf der Zeit sowohl für alle Mitgliedstaaten13 als auch nur Österreich betreffend zu erheblichen Verbesserungen und Aktualisierungen des Rechtsschutzes in Judikatur und Gesetzgebung beigetragen. Auf gesamteuropäischer Ebene seien u.a. hervorzuheben:

  • die Ableitung eines Rechts auf eine gesunde Umwelt aus dem Recht auf Leben und dem Recht auf Achtung des Privatlebens,

  • umfassende Rechtsschutzgarantien im Hinblick auf das Verbot von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, darunter auch das Verbot, Menschen an einen Staat auszuliefern oder in dorthin abzuschieben, wo ihm die Todesstrafe, Folter oder unmenschliche Behandlung droht,

  • die Anwendung des Verbots von Sklaverei auf moderne sklavereiähnliche Ausbeutungsverhältnisse und Menschenhandel,

  • die Ableitung eines Rechts auf Datenschutz aus dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens,14

  • die Anerkennung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung von LGBTI-Personen, abgeleitet aus dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und des Diskriminierungsverbots,

  • die Berücksichtigung der Achtung des Privat- und Familienlebens im Fall von Abschiebungen,

  • umfassender Schutz der Meinungs-, Medien- und Informationsfreiheit, u.a. durch den Dualismus öffentlich-rechtlicher und privater Rundfunk- und Fernsehanstalten,

  • Klärung des Verhältnisses des Rechts der Eltern, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen, zugunsten des Rechts auf Bildung von Kindern und Jugendlichen,

  • Anerkennung eines individuellen Rechts auf freie und geheime Wahlen.

Im Hinblick auf Österreich sind vor allem hervorzuheben: Die Judikatur des EGMR samt mehrfachen Verurteilungen Österreichs zum Recht auf persönliche Freiheit sowie zum Recht auf ein faires Verfahren, die letztlich 2014 zur Einführung einer unabhängigen und umfassenden Verwaltungsgerichtsbarkeit (statt weisungsgebundener Verwaltungsbehörden) führte, was auch eine Änderung der Bundesverfassung erforderte. Sodann ein EGMR-Urteil aus 1993, das das Monopol des Österreichischen Rundfunks als konventionswidrig befand,15 womit erst der Weg für private Rundfunk- und TV-Betreiber geöffnet wurde. Ebenso wurden aufgrund der EGMR-Judikatur Anpassungen der asyl- und fremdenpolizeilichen Bestimmungen sowie der medizinischen Hilfeleistung in der Schubhaft im Fall von Misshandlungen durch die Polizei erforderlich. Aufgrund eines EGMR-Urteils wurde auch das Sorgerecht unverheirateter Väter für ihre Kinder wegen Verletzung des Diskriminierungsverbots reformiert. Ein dringender Anpassungsbedarf angesichts einiger Verurteilungen Österreichs16 besteht jedoch nach wie vor im Hinblick auf das Recht auf Zugang zu Informationen öffentlichen Interesses, dem bisher nicht nachgekommen wurde – der Entwurf eines „Informationsfreiheitsgesetzes“ aus 2019 schlummert seither zum Schutz des Amtsgeheimnisses im Parlament.

Dass es sich daher bei all den Attacken der letzten Zeit auf EMRK und EGMR um lediglich Rauch auslösende Nebelgranaten handelt, erweist sich auch darin, dass eine Änderung der EMRK und eine Beschränkung der Kompetenzen des EGMR nur im Rahmen des Europarats und der EU möglich wären, es sei denn, Österreich will sich aus beiden verabschieden. Hinzu kommt, dass nach Artikel 52 Absatz 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union 2000 deren Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite wie die entsprechenden Rechte der EMRK haben, wobei das Recht der EU auch einen weiter gehenden Schutz gewähren darf, womit die EMRK den Mindeststandard an menschenrechtlichen Gewährleistungen der EU vorgibt.

Alle Angriffe auf EMRK und EGMR aus Gründen der Flucht- und Migrationsbewegungen erweisen sich angesichts dessen als pure politische Agitation, ausgelöst durch eine Rat- und Ideenlosigkeit, wie diese Herausforderungen gelöst werden könnten. Hinzu kommt, dass es der Unfähigkeit bzw. dem Unwillen zahlreicher EU-Staaten zuzuschreiben ist, gemeinsame eine faire Asyl- und Flüchtlingspolitik mit entsprechenden Aufnahmequoten zu entwickeln und rechtlich in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der EMRK umzusetzen. Erste Ansätze und Ideen dazu gibt es schon, auch im Rahmen der EU, ohne dass derzeit Chancen auf eine Umsetzung sichtbar sind.17

Das Fazit? Es braucht nicht nur ein klares Bekenntnis der österreichischen Politik zu EMRK und EGMR als Fundamente von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten, sondern auch die Bereitschaft aller politischer Parteien an einem Strang zu ziehen, was die Wahrung und Stärkung dieser Fundamente anbelangt. Nur auf dieser Basis kann es auch gelingen, auf europäischer Ebene sowohl zu einer menschenrechtskonformen als auch zu einer die EU-Staaten fair ausgewogen belastenden Bewältigung der anhaltenden Migrations- und Fluchtbewegungen zu gelangen.

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Hannes Tretter, ao. Univ.Prof. i.R. für Grund- und Menschenrechte an der Universität Wien, Vorstandsvorsitzender des Wiener Forums für Demokratie und Menschenrechte und Direktor der Straniak Academy für Democracy and Human Rights.
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Marion Wisinger, Historikerin und Autorin, Vorstandsvorsitzende des Wiener Forums für Demokratie und Menschenrechte, Vizepräsidentin des Österreichischen PEN-Club und Beauftragte des Writers-in-Prison-Komitees. Chefredakteurin des Liga-Magazins der Österreichischen Liga für Menschenrechte.
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--------------------------------- Anmerkungen -----------------------------------------

1 Nicht der Europäischen Union, was immer wieder verwechselt wird.

2 Heitmeyer, In der Krise wächst das Autoritäre, ZeitOnline, 13.04.2020

3 Heitmeyer, Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung 1, edition suhrkamp, 2018.

4 Strobl, Radikalisierter Konservatismus. Eine Analyse, Suhrkamp, 2021.

5 Tretter, Menschenrechte – Ein Fall für die EU, Der Standard, 01.11.2010.

6 Nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Gerichtshof der EU (EuGH) in Luxemburg, der für die Charta der Grundrechte der EU 2000 zuständig ist.

7 Die Präambel ist nach Artikel 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge 1969, dem Österreich 1980 beigetreten ist, zur Auslegung der EMRK heranzuziehen.

8 Vgl. den ganz ähnlichen Artikel 54 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union 2000 über das Verbot des Missbrauchs ihrer Rechte.

9 Siehe dazu schon Berka, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die österreichische Grundrechtstradition, ÖJZ 1979, 363 und 428.

10 Verbot körperlicher Züchtigungen in englischen Schulen.

11 Wildhaber, Erfahrungen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, Schweizerischer Juristenverein, Heft 3/1979, 304.

12 Ausgenommen sind vor allem das Verbot der Todesstrafe, das Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe sowie das Verbot von Sklaverei und Leibeigenschaft.

13 Nach dem kürzlichen Austritt Russlands aus dem Europarat umfasst dieser nun 46 Mitgliedstaaten, die die EMRK ratifiziert haben, darunter alle EU-Staaten.

14 Vgl. den eigenständigen Artikel 8 der Charta der Grundrechte der EU 2000.

15 Österreich war einer der letzten europäischen Staaten, die zu dieser Zeit noch nicht auf das duale System öffentlich-rechtlicher und privater Rundfunk- und Fernsehanstalten umgestiegen waren.

16 Siehe zB den Skandal um die Verlustgeschäfte der Hypo Alpe-Adria und die Verweigerung des Zugangs zu relevanten Informationen.

17 Siehe Tretter, Eine Alternative zur „Festung Europa“?, International V/2021, 28. Vgl. dazu auch Tretter, Massenzustrom-Richtlinie: Besser spät als nie, Die Presse, Rechtspanorama, 21.03.2022.

Im EU-Kontext siehe zB die Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat, "Auf dem Weg zu einer umfassenden Strategie mit Afrika", JOIN(2020) 4 final, 09.03.2020; den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bewältigung von Krisensituationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl, COM(2020) 613 final, 23.09.2020; sowie den European Union Emergency Trust Fund for Africa (EUTF), https://euagenda.eu/upload/publications/factsheet-eutf-en.pdf


Ein Plädoyer für eine sachliche, aber schonungslose Auseinandersetzung mit EMRK und allen anderen Gesetzen, sowie mit den Methoden der Gesetzgebung.

von Hubert Thurnhofer

"Alle Angriffe auf EMRK und EGMR aus Gründen der Flucht- und Migrationsbewegungen erweisen sich .. als pure politische Agitation, ausgelöst durch eine Rat- und Ideenlosigkeit, wie diese Herausforderungen gelöst werden könnten", schreiben Tretter/Wisinger, und: "dass es sich bei all den Attacken der letzten Zeit auf EMRK und EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) um lediglich Rauch auslösende Nebelgranaten handelt".

Diese Beurteilung kann ich teilen. Doch die Pflichtverteidigung des Rechtsprofessors Hannes Tretter und der Historikerin Marion Wisinger ("EMRK: zeitgemäß und effektiv") schießt ebenso mit Nebelgranaten und bleibt im Ominösen, statt den Diskurs mit konkreten Fragen auf eine sachliche Ebene zu heben. Als Autor des Buches "Baustelle Parlament" habe ich - bislang unwidersprochen von Juristen - erläutert, warum die österreichische Verfassung für das 21. Jahrhundert nicht geeignet ist.

Die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK (auch MRK) ist, so wie die Charta der Grundrechte der Europäischen Union GRC Teil der österreichischen Verfassung - somit ist gemäß meiner These zu hinterfragen, ob und inwiefern MRK und GRC für das 21. Jahrhundert nicht geeignet sind. Um aus dem Diskurs des Ominösen, welcher die Politik des Ominösen dominiert, raus zu kommen, ist zu präzisieren:

1. Wer hat den aktuellen Diskurs ausgelöst?

2. Was genau ist die EMRK?

3. Wo konkret gibt es Änderungsbedarf?

Prämisse meiner Überlegungen ist der Grundsatz, dass eine Demokratie eine schlanke Verfassung braucht, so dass sie alle Bürger des Landes lesen und verstehen können, um sich letztlich damit zu identifizieren. Dies trifft auf die bestehende Österreichische Verfassung BVG in keiner Weise zu. Im Gegenteil: die Experten sind sich einig, das BVG können nur Experten verstehen - somit ist das BVG keine Grundlage einer Demokratie, sondern die Grundlage einer Expertokratie. In logischer Konsequenz brauchen wir, wenn wir eine bessere Demokratie wollen, eine bessere, eine grundlegend neue Verfassung. Diese Forderung unterstützen zahlreiche Parlamentarier - leider immer erst dann, nachdem sie ihr Mandat verloren haben.

ad 1. Wer hat den aktuellen Diskurs ausgelöst?

Aus meiner Sicht gibt es immer gute Gründe, über die Qualität unserer Gesetze zu diskutieren. Diese Diskussionen sollten eigentlich ständig im Parlament geführt werden, was bekanntlich nicht passiert. Würde es passieren, müssten die Abgeordneten 90 Prozent ihrer Zeit mit der Beantwortung der Frage verbringen, welche antiquierten Gesetze abzuschaffen sind. Wenn mal eine Gesetzes-Diskussion in die Medien gelangt, dann werden die konkreten Inhalte sofort ausgeblendet und die Leser von den Medien mit Spekulationen und Unterstellungen geblendet.

Am 11.11.22 hat Standard.at ein Interview mit ÖVP Klubobmann August Wöginger publiziert. Titel: "Auch die Menschenrechtskonvention gehört überarbeitet". Diese Schlagzeile wurde wie ein Lauffeuer von allen Medien verbreitet. Typisch puls24.at: "Wöginger rüttelt an Menschenrechtskonvention". Damit wird unterschwellig angedeutet, ein hochrangiger ÖVP-Politiker wolle die Menschenrechte abschaffen. Unter insgesamt 19 Fragen über Koalition, Korruption, Arbeitsmarkt (inklusive Job-Beschaffung für einen ÖVP-Bürgermeister), sowie Migration findet sich die

Standard-Frage 16: "Für Asylwerber musste der Bund nun wieder Zelte aufstellen, weil die Länder ihre Verteilungsquoten nicht erfüllen. Das erinnert an 2015. Wieso hat man daraus nicht gelernt?

Wöginger: Österreich hat derzeit die zweitstärkste Pro-Kopf-Belastung innerhalb Europas. Und es ist natürlich herausfordernd, dass wir diese Menschen, die ein Recht auf Asyl haben, auf ganz Österreich verteilen. Ich habe aber dem Treffen mit den Landeshauptleuten entnommen, dass auch die Bundesländer hier mehr tun wollen. Eines muss man aber schon auch sagen: Die Europäische Union hat sieben Jahre lang verschlafen, tragfähige Lösungen zum Schutz der Außengrenzen auf den Tisch zu legen. Das ist ein Aufruf in Richtung Europa, in die Gänge zu kommen.

Standard-Frage 17: Sie finden, das europäische Asylrecht gehört überarbeitet?

Wöginger: Ja, das würde ich meinen. Auch die Menschenrechtskonvention gehört überarbeitet. Wir haben mittlerweile eine andere Situation, als es vor ein paar Jahrzehnten der Fall war, als diese Gesetze geschrieben wurden. Auch das, was in der Halloween-Nacht in Linz stattgefunden hat, ist inakzeptabel. Wenn wir Menschen Asyl gewähren, erwarten wir uns, dass unsere Gesetze eingehalten werden, ansonsten haben sie hier nichts verloren. Ich verstehe alle Menschen, denen es hier die Zornesröte ins Gesicht treibt."

Hängen bleibt in den Köpfen der Menschen die verkürzte Interpretation der Standard-Schlagzeile, Wöginger betreibe "pure politische Agitation" (Trettner/Wisinger) und er wolle die Menschenrechte generell abschaffen. Nicht mehr und nicht weniger erreicht der Standard durch Agenda-Setting, das er mit dem NÖ FP-Obmann Udo Landbauer am 23.1.23 (eine Woche vor der NÖ-Wahl) erfolgreich fortsetzt, um rechts-rechts gegen rechts auszuspielen: "Eskalationsspirale rechts der Mitte", kommentiert der Journalist Johannes Huber auf seinem Blog diesubstanz.at.

ad 2: Was genau ist die EMRK?

Über die Grundlagen unserer Grundrechte wissen die Österreicher nach Lektüre all dieser Artikel nicht mehr als zuvor. Sie haben weiterhin keine Ahnung über Gliederung und Inhalte der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK, sowie die Unterschiede zur Charta der Grundrechte GRC, die beide EU-Recht sind. Basisinfos dazu liefert wikipedia, auch wenn dieses Portal bei politischen Themen mittlerweile ziemlich tendenziös geworden ist (siehe: Mit Vorsicht zu genießen). Über die Grundlagen unserer Verfassung, ihre bröckelnde Struktur ("und ihre teilweise skurrilen Bestimmungen informiert das Buch "Baustelle Parlement".

Unbeantwortet bleiben in der laufenden Auseinandersetzung grundlegende Fragen, weil sie im Diskurs des Ominösen nicht gestellt werden:

- Warum findet die EU mit der UNO Menschenrechtskonvention (nach meiner unbedeutenden Meinung das wichtigste Dokument der Menschheit im 20. Jahrhundert) nicht ihr Auslangen?

- Warum sind Österreichs Gesetzgeber so übereifrig und heben Europarecht zusätzlich noch in Verfassungsrang, als müsse man EU-Recht doppelt absichern.

- Wozu wurde in der Ära Vranitzky ein "Bundesverfassungsgesetz über den Schutz der persönlichen Freiheit" beschlossen, das sich nicht etwa die Mühe macht, unsere Freiheitsrechte zu definieren, sondern nur regelt, wann und wie der Staat unsere Freiheitsrechte einschränken darf. (Ein Verfassungsgesetz, das meiner unbedeutenden Meinung nach völlig überflüssig ist, weil es inhaltlich keine Verbesserung und keine einzige Neuerung gegenüber dem EMRK bringt.)

ad 3. Wo konkret gibt es Änderungsbedarf?

"Welche Verwerfungen gehen der Inkaufnahme von unmenschlicher Behandlung, Folter und Tod voraus, was sind die Vorboten der Meinung, dass elementare Menschenrechte nicht mehr zeitgemäß wären? " Mit dieser Frage unterstellen Tretter/Wisinger, dass Wöginger die Absicht hege, Folter und Todesstrafe wieder einzuführen. Anstatt derartige Nebelgranaten zu werfen, hätten die Wissenschafter erklären müssen, dass erstens die Flüchtlingsfrage nicht Gegenstand der EMRK ist, und zweitens Kriegs-Flüchtlinge, "die ein Recht auf Asyl haben", entgegen der Aussage von Wöginger, kein Recht auf Asyl haben. Das widerspricht zwar den moralischen Vorstellungen von "Menschenrecht" sowie dem allgemeinen Verständnis von "Flüchtling", doch laut Genfer Flüchtlingskonvention werden nur "jene Personen als Flüchtlinge bezeichnet, die sich aus wohl begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung außerhalb ihres Herkunftsstaates befinden und den Schutz des Herkunftsstaates nicht in Anspruch nehmen können" (oesterreich.gv.at) Demnach werden Kriegsflüchtlinge gemäß Genfer Flüchtlingskonvention wie Wirtschaftsflüchtlinge behandelt. Als Moralphilosoph würde ich hier durchaus Handlungsbedarf beim Gesetzgeber sehen.

Beispiel Todesstrafe, EMRK Artikel 2 (1): "Die Todesstrafe ist abgeschafft", lautet Artikel 85 B-VG, seit Bestehen der Verfassung im Jahre 1919. Damit hat der Gesetzgeber bewiesen, dass ein Verfassungsgesetz auch kurz, prägnant, für jeden verständlich und als Grundwert nachhaltig wirksam sein kann. Im direkten Widerspruch dazu steht aber Artikel 2 des EMRK vom 4. November 1950: "Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils". Erst im Jahr 1985 wurde dieser Widerspruch durch das Protokoll 6 zur EMRK "... über die Abschaffung der Todesstrafe" in Artikel 1 bereinigt: "Die Todesstrafe ist abgeschafft. Niemand darf zu dieser Strafe verurteilt oder hingerichtet werden." Eine seltsame Ausnahmeregelung folgt Gewehr bei Fuß: Artikel 2 dieses Protokolls besagt: "Ein Staat kann durch Gesetz die Todesstrafe für Taten vorsehen, welche in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen werden". Es dauerte weitere 20 Jahre, bis die EMRK dank Protokoll 13 "die vollständige Abschaffung der Todesstrafe" zustande gebracht hat.

Tötung gemäß EMRK Artikel 2(2). Immer noch gültig und höchst problematisch ist jedoch Absatz (2 ) dieses Artikels: "Die Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt:

a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen;

b) um eine ordnungsgemäße Festnahme durchzuführen oder das Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern;

c) um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrücken."

Auch ein Pazifist wird Punkt a) unterschreiben können, aber schon bei Punkt b) stellt sich die Frage, wie "eine ordnungsgemäße Festnahme" aussehen könnte, bei der ein zu Verhaftender nicht abgeführt werden kann und deshalb gezielt erschossen werden muss. Die Alarmglocken müssen jedoch bei Punkt c) läuten. Wer 2020/2021 miterlebt hat, wie der damalige Innenminister und jetzige Bundeskanzler Nehammer die Polizei auf Demonstranten gehetzt hat, der muss sich wohl noch bedanken, dass Nehammer die "Corona-Demos" nicht als Aufruhr oder Aufstand interpretiert hat. Ein Beamter in zivil, den ich zufällig bei einer dieser Demos auf diese Problematik angesprochen habe, hat mich beruhigt: "Es kann nicht sein, dass Polizisten auf Zivilisten schießen. Das verbietet die ADV." ADV frage ich. "Die Allgemeine Dienstverordnung". Bis heute weiß ich nicht, ob ich mich darüber freuen soll oder ob ich mich davor fürchten muss, dass ein Teil der Exekutive, nämlich die Polizei, ihre Dienstverordnung über das Grundgesetz stellt.

Versammlungsfreiheit gemäß Artikel 11 (1): Alle Menschen haben das Recht, sich friedlich zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen, ... (2) Die Ausübung dieser Rechte darf keinen anderen Einschränkungen unterworfen werden, als den vom Gesetz vorgesehenen, die in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen und öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral oder des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind."

Wer noch nicht vergessen hat, was während der vergangenen Lockdowns "im Interesse des Schutzes der Gesundheit" verordnet wurde, möchte nicht wissen, welche Verordnungen die Regierung grundrechtskonform "im Interesse der Moral" erlassen könnte.

Gleichzeitig muss man noch froh sein, dass offenbar niemand in der Regierung die EMRK so genau gelesen hat, denn sonst wären sicher viele politische Versammlungen während der Lockdowns "im Interesse der Gesundheit" aufgelöst worden. Die Moral wird in Gesetzen immer wieder angesprochen, doch die Moral-Diskussion nie und nirgends geführt! Ganz im Gegenteil, die Parlamentsparteien verweigern die offene Diskussion über ihre Moralvorstellungen und lehnen Weiterbildung in Ethik ab!

Der Abschnitt II ab Artikel 19 legt die Grundlagen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Die EMRK enthält 59 Artikel, wobei nur Artikel 1 bis 18 gesellschaftspolitisch relevant sind. Die angeführten Beispiele zeigen hoffentlich, dass man über die einzelnen Bestimmungen der EMRK sehr wohl diskutieren kann und muss! Darüber hinaus sollten Rechtsprofessoren, Politologen und Historiker auch darüber forschen und diskutieren, wie die Regierung in ihren Gesetzesvorlagen Grundrechte missbrauchte um zweifelhafte Gesetze durchzuboxen. Hier ist nicht die Rede von dutzenden ausgewiesenen Verfassungsbrüchen in den vergangenen drei Jahren (bei über 600 Verfassungsklagen), sondern von der Art und Weise, wie das ominöse Impfpflichtgesetz zustande gekommen ist.

Der Regierungsentwurf legitimierte sich explizit mit Einhaltung der EMRK: "Die gesetzliche Festlegung einer solchen Impfpflicht ist primär an Art 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu messen." Der Artikel 8 EMRK lautet: "(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. (2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist."

In meiner Stellungnahme gegen den Gesetzesentwurf habe ich folgendermaßen argmuentiert: Laut Entwurf des Gesundheitsministers wird festgehalten, "dass auch eine verpflichtende Impfung nicht durch unmittelbare Befehls- und Zwangsgewalt durchgesetzt werden darf, sondern durch Verwaltungsstrafen sanktioniert wird." Offenbar schließt der Gesetzesentwurf ohnehin aus, dass Exekutivorgane "Impfverweigerer" in ihrer Wohnung verhaften und unter Anwendung von Gewalt auf die nächste Impfstraße abführen. Auch die Einschränkung des Briefverkehrs steht im Entwurf nicht zur Debatte, die Berufung auf EMRK Artikel 8 ist daher verfassungsjuristisches Larifari, und kann als Begründung nicht anerkannt werden. Die angebliche Priorität des Artikel 8 EMRK ist eine willkürliche Interpretation unserer Verfassung und beweist, dass die zuständigen Minister sowie die bisherigen Bundeskanzler dieser Kurzzeitregierung massive Lücken in ihrer jeweiligen Verfassungskenntnis aufweisen und darüber hinaus nicht die geringsten Hemmungen haben, die Bürger dieses Landes mit Scheinargumenten zu betrügen.

Relevant und zu prüfen wäre bei dem vorliegenden Gesetzesprojekt jedoch, ob der Entwurf mit Artikel 3 GRC (Charta der Grundrechte der Europäischen Union) vereinbar ist. GRC befindet sich bekanntlich ebenfalls in Verfassungsrang! Dieser Artikel lautet: "Recht auf Unversehrtheit (1) Jeder Mensch hat das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit. (2) Im Rahmen der Medizin und der Biologie muss insbesondere Folgendes beachtet werden: a) die freie Einwilligung des Betroffenen nach vorheriger Aufklärung entsprechend den gesetzlich festgelegten Einzelheiten, b) das Verbot eugenischer Praktiken, insbesondere derjenigen, welche die Selektion von Menschen zum Ziel haben, c) das Verbot, den menschlichen Körper und Teile davon als solche zur Erzielung von Gewinnen zu nutzen, d) das Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen." Das geplante Impfpflichtgesetz widerspricht in allen Punkten dem Artikel 3 GRC und ist somit vollinhaltlich abzulehnen!

Resümee: Die EMRK ist weder zeitgemäß noch effektiv, sie ist vielmehr antiquiert und dem entsprechend erneuerungsbedürftig; so wie das gesamte BVG. Das kleine Österreich wird die EU nicht bewegen können, aus welchen Gründen auch immer, EU-Gesetze zu ändern. Aber Österreich kann jederzeit beginnen, die eigene Verfassung zu erneuern. Das darf jedoch keine "Verfassungsreform" im Stile des gescheiterten Österreich-Konvents werden, bei der keine Bürgervertreter dabei waren, sondern nur Parteienvertreter sich gegenseitig ausgebremst haben. Wir brauchen vielmehr eine komplette Neufassung unserer Verfassung, wie sie die Schweiz Ende der 1990er Jahre umgesetzt hat unter Beteiligung des Volkes! Wer das reflexartig für unmöglich hält, sollte sich ernsthaft fragen, welches Demokratie-Verständnis dadurch zum Ausdruck kommt.

Anlässlich der 100-Jahr-Feiern wurde vielfach eine Aussage von Hans Klecatzky zitiert, Österreichs Verfassung sei eine Ruine; als mehr oder weniger ironisches Bonmot! (z.B. Kommentar von Ewald WiederinKommentar von Armin Wolf)

Man muss endlich beginnen, diese Aussage als Urteil über den tatsächlichen Zustand unserer Verfassung zu verstehen, und als Grundlage für Überlegungen, wie wir unser von den Parteien devastiertes Land auf Basis einer neuen Verfassung wieder aufbauen sollen. "Im Grunde ist jede Verfassung nur ein Blatt Papier, das aus sich heraus nichts zu bewirken vermag", schreibt Ewald Wiederin. Es ist höchste Zeit, diesen Zustand zu überwinden; das geht nur mit Beteiligung des Volkes. Hunderte Ideen dazu gibt es bereits, nur die Parteien wollen sie nicht sehen, und die Massenmedien unterdrücken sie.

P.S. Warum Gesetzesentwürfe fast nur über Ministerialentwürfe im Parlament eingebracht werden, anstatt von den dafür gewählten Nationalratsabgeordneten, versucht ethos.at an einer anderen Stelle zu klären (siehe: Gesetzgebung braucht Qualitätskontrolle)

Ergänzung: Am 10.5.2020 untersuchte RA Roman Schiessler den Artikel 2 EMRK - Recht auf Leben


EGMR Präsidentin Síofra O’Leary in Wien

Verfassungstag / Verfassungsgericht / EMRK / EGMR

2. Oktober 2023 (Pressemitteilung des VfGHMit einem Festakt zum Verfassungstag – dem gestrigen 1. Oktober – erinnert der VfGH alljährlich an den Beschluss des Bundes-Verfassungsgesetzes in der Konstituierenden Nationalversammlung am 1. Oktober 1920. VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter konnte neben O’Leary auch Bundespräsident Van der Bellen, die Bundesminister Edtstadler, Rauch und Zadić sowie zahlreiche weitere Personen als Ehrengäste begrüßen.

„Die auf Regeln basierende, multilaterale internationale Ordnung“, zu der auch die Europäischen Menschenrechtskonvention und der Gerichtshof in Strassburg gehören, „wird häufiger verunglimpft als jemals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“. Dies stellte die Präsidentin des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) Síofra O’Leary als Festrednerin heute am Verfassungsgerichtshof in Wien fest. Gleichzeitig hob sie hervor, dass der EGMR potenziell die letzte Zuflucht für über 600 Millionen Einwohner des Rechtsraumes des Europarats ist.

Überlegungen zur Zukunft des EGMR: Wie wären schnellere Entscheidungen möglich?

Es falle, so Síofra O’Leary – die von Irland ernannte Richterin am EGMR, die seit 2022 dessen Präsidentin ist – am Beginn ihrer Rede, gerade in Wien leicht, den Ursprung der EMRK in den Gräueltaten, die von totalitären Regimen während des Zweiten Weltkriegs auf europäischem Boden und darüber hinaus begangen wurden, zu erkennen.

Schnell jedoch wandte sie sich der Gegenwart und der Zukunft des Gerichtshofes in Strassburg zu und stellte Überlegungen an, wie der EGMR schnellere Entscheidungen treffen könne. Heute sind laut der Präsidentin 75.000 Beschwerden anhängig, bei nur 46 Richterinnen und Richtern. Auch wenn nahezu 75 Prozent der anhängigen Fälle aus Beschwerden bestehen, die sich mit Fragen befassen, zu denen es bereits eine gut etablierte Rechtsprechung gibt oder die repetitiv sind, sind auf der Ebene der siebenköpfigen Kammern immer noch nahezu 20.000 Beschwerden anhängig. Es handle sich, stellte Präsidentin O’Leary fest, um entweder sogenannte „Prioritäts“- oder „Impact“-Fälle, die Fragen aufwerfen, welche umgehender Bearbeitung bedürften.

Erstens könnte sich, so die Präsidentin des EGMR, der Gerichtshof öfters des Zulässigkeitskriteriums „kein erheblicher Nachteil“ bedienen. Dies sei bisher wenig genutzt worden und führe etwa dazu, dass eine Kammer von sieben Richterinnen und Richtern ein Urteil über ein Parkbußgeld von rund 25 Euro, einhergehend mit 5 Punkten im Verkehrsregister des Beschwerdeführers, fällen musste.

Zweitens: „Um mit einer substantielleren Änderung auf der Ebene der Mitgliedstaaten – die die grundlegenden institutionellen Akteure sind, die die Zukunft des Gerichtshofs und des Konventionssystems bestimmen – weiter zu machen: Man könnte darüber nachdenken, einen institutionellen Mechanismus für den Gerichtshof zu entwickeln, der diesem erlaubt, weitergehend diejenigen Fälle herauszufiltern, die eine ,verfassungsrechtliche´ Relevanz für die Rechtsprechung haben.“ O’Leary betonte jedoch, sie habe weder die Absicht noch den Wunsch, in das Terrain von Verfassungsgerichten einzudringen. Die Tatsache, dass der EGMR von Beginn an mit bestimmten „Verfassungs“-Merkmalen ausgestattet worden sei, sei aber schwer zu ignorieren.

Die EGMR-Präsidentin wies auch darauf hin, dass 70 Prozent der anhängigen Fälle aus lediglich vier Staaten stammen (der Türkei, Rumänien, der Ukraine und Russland, von wo vor September 2022 eingereichte Fälle noch anhängig sind). Lediglich 0,12 Prozent der anhängigen Beschwerden stammten aus Österreich: „Dies streicht heraus, dass in vielen der 46 Staaten die Einbettung der EMRK erreicht wurde, die sicherstellt, dass der Straßburger Gerichtshof nur in Ausnahmefällen eingreift“.

VfGH-Präsident Grabenwarter wertete die Begegnung mit Síofra O’Leary sowohl als klares Bekenntnis zu den europäischen Menschenrechten – in Zeiten, in denen diese teilweise in Frage gestellt würden – als auch als Hinweis, wie intensiv der Austausch in der Rechtsprechung zwischen VfGH und EGMR ist, wie der richterliche Dialog funktioniert. Die EMRK sei „seit 65 Jahren so etwas wie das Zentralmassiv der österreichischen Grundrechtslandschaft“.

Als Beispiel für den richterlichen Dialog nannte Grabenwarter eine Entscheidung des VfGH vom Juni dieses Jahres über das Verbot fossiler Treibstoffe. Der VfGH habe in seiner Begründung die sogenannten Schutzpflichten des Staates im Hinblick auf schwerwiegende Umweltbeeinträchtigungen betont und dazu einige sehr konkrete Aussagen getroffen, etwa, dass Schutzpflichten auch in Bezug auf drohende Naturkatastrophen bestehen. Keine dieser Aussagen habe, so Grabenwarter, lange begründet werden müssen; sie seien unter Berufung auf einschlägige Urteile des Strassburger Gerichtshofes in die Entscheidung des VfGH aufgenommen worden.