Freud Sigmund: Massenpsychologie und Ich-Analyse

Einleitend zitiert Sigmund Freud die Positionen des Buches "Psychologie der Massen"von Gustave Le Bon, das 1895 in Paris erschienen ist: "Es gibt Ideen und Gefühle, die nur bei den zu Massen verbundenen Individuen auftreten oder sich in Handlungen umsetzen. Die psychologische Masse ist ein provisorisches Wesen, das aus heterogenen Elementen besteht, die für einen Augenblick sich miteinander verbunden haben, genauso wie die Zellen des Organismus durch ihre Vereinigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bilden". Dieser "Organismus" hat auch "eine Kollektivseele", deren Eigenschaften jedoch "denen des isolierten Individuums völlig entgegengesetzt sind." Diese Eigenschaft nennt Le Bon "Suggestibilität", die dazu führt, dass Gefühle in der Menge ansteckend wirken und die Masse in einen Zustand der Hypnose versetzen.

Sigmund Freud 800 Max Halberstadt Gemeinfrei

Foto: Sigmund Freud (Fotografie von Freuds Schwiegersohn Max Halberstadt, 1921, dem Erscheinungsjahr von "Massenpsychologie und Ich-Analyse)

Zugespitzt gilt aus Sicht von Le Bon

- "Die Masse ist außerordentlich beeinflussbar und leichtgläubig, sie ist kritiklos, das Unwahrscheinliche existiert für sie nicht.

- Sie denkt in Bildern, die einander assoziativ hervorrufen.

- Die Gefühle der Masse sind stets sehr einfach und sehr überschwänglich.

- Die Masse kennt weder Zweifel noch Ungewissheit.

- Selbst zu allen Extremen geneigt, wird die Masse auch nur durch übermäßige Reize erregt.

- Sie ist intolerant wie autoritätsgläubig.

- Ferner unterliegt die Masse der wahrhaft magischen Macht von Worten ... Mit Vernunft und Argumenten kann man gegen gewisse Worte und Formeln nicht ankämpfen."

Sittlichkeit der Masse

Schrittweise relativiert Sigmund Freud die Darstellung, wonach die Masse immer dumm, manipulierbar und autoritätsgläubig sei: "Auch Le Bon war bereit zuzugestehen, daß die Sittlichkeit der Masse unter Umständen höher sein kann als die der sie zusammensetzenden einzelnen und daß nur die Gesamtheiten hoher Uneigennützigkeit und Hingebung fähig sind. ... auch die Massenseele ist genialer geistiger Schöpfungen fähig, wie vor allem die Sprache selbst beweist, ... überdies bleibt es dahingestellt, wie viel der einzelne Denker oder Dichter den Anregungen der Masse, in welcher er lebt, verdankt, ob er mehr als der Vollender einer seelischen Arbeit ist, an der gleichzeitig die anderen mitgetan haben."

Waren vor hundert Jahren, als Freud sein Buch über Massenpsychologie geschrieben hat, noch herausragende Erfinder entscheidend für die großen technischen Revolutionen seiner Zeit, so können technische Innovationen heute nur noch durch kollektive Intelligenz (Schwarmintelligenz) realisiert werden. Trotzdem hat Freud schon erkannt, dass "die Masse" nicht undifferenziert und voreilig diffamiert werden sollte: "Man hat wahrscheinlich als 'Massen' sehr verschiedene Bildungen zusammen gefaßt, die einer Sonderung bedürfen."

The Group Mind

Bezugnehmend auf William McDougall ("The Group Mind") unterscheidet Freud zwischen zufälligen Gruppen oder Menschenhaufen (nach McDougall "crowd") und hoch organisierten Massen (Organisationen). Nicht jede Gruppe ist eine "primitive Masse", die sich durch Affektsteigerung und Denkhemmung definiert. Freud verweist auf die "künstlichen Massen" und bringt als Beispiele die Kirche und das Heer.

"Kirche und Heer sind künstliche Massen, das heißt, es wird ein gewisser äußerer Zwang aufgewendet, um sie vor Auflösung zu bewahren und Veränderungen in ihrer Struktur hintanzuhalten." Um diese Massen zusammen zu halten, ist es notwendig Panik zu vermeiden, denn "es gehört geradezu zum Wesen der Panik, daß sie nicht im Verhältnis zur drohenden Gefahr steht, oft bei den nichtigsten Anlässen ausbricht." Freud unterscheidet zwischen Angst und Panik, wobei "Panik" ein Angstausbruch ist, der "durch den Anlaß nicht gerechtfertigt wird." So kann ein Heer, wenn die Soldaten das Vertrauen in ihren Heerführer verlieren, in Panik geraten und zerfallen. Es kann aber auch bei Angst vor der Übermacht eines Feindes seine "libidinöse Struktur" festigen und so den Feind besiegen. "Es ist kein Zweifel möglich, daß die Panik die Zersetzung der Masse bedeutet, sie hat das Aufhören aller Rücksichten zur Folge, welche sonst die einzelnen der Masse füreinander zeigen."

Es wäre nicht Sigmund Freund, wenn zur Erklärung des Phänomens der Masse am Ende nicht die Libido ins Spiel käme: "Wenn also in der Masse Einschränkungen der narzißtischen Eigenliebe auftreten, die außerhalb derselben nicht wirken, so ist dies ein zwingender Hinweis darauf, daß das Wesen der Massenbildung in neuartigen libidinösen Bindungen der Massenmitglieder aneinander besteht."

Im Kapitel "Verliebtheit und Hypnose" schließt sich der Kreis von der Massenpsychologie zur Ich-Analyse: "Von der Verliebtheit ist offenbar kein weiter Schritt zur Hypnose. Die Übereinstimmungen beider sind augenfällig. Dieselbe demütige Unterwerfung, Gefügigkeit, Kritiklosigkeit gegen den Hypnotiseur wie gegen das geliebte Objekt. ... die hypnotische Beziehung ist - wenn dieser Ausdruck gestattet ist - eine Massenbildung zu zweien. Die Hypnose ist ein gutes Vergleichsobjekt mit der Massenbildung, weil sie vielmehr mit dieser identisch ist. ... Sie enthält einen Zusatz von Lähmung aus dem Verhältnis eines Übermächtigen zu eine Ohnmächtigen."

Resümee

"Jeder einzelne ist ein Bestandteil von vielen Massen, ... Jeder einzelne hat so Anteil an vielen Massenseelen, an der seiner Rasse, des Standes, der Glaubensgemeinschaft, der Staatlichkeit usw". Abgesehen davon, dass Freud in der Aufzählung der Beispiele dem Welt- und Gesellschaftsbild des 19. Jahrhunderts verhaftet ist (heute könnte man statt Rasse und Stand die Mitgliedschaft in einem Verein und Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe als Beispiele anführen), ist dieses Resümee ein wichtiger Beitrag zu einer differenzierten Betrachtungsweise eines Begriffes, der an sich pauschaliert und vorwiegend abwertend verwendet wird: "die Masse". Die Masse ist aber nicht nur "der Pöbel", der aufgeheizt nach einem verlorenen Fußballspiel die Straßen unsicher macht, sondern auch die gut organisierte Menge talentierter, intelligenter und engagierter Menschen, die gemeinsam gegen bestehende Monopole auftreten und Linux und andere Open Source Systeme schaffen.