Rousseau Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag

„Vom Gesellschaftsvertrag oder Die Grundlagen des politischen Rechts“ erschien erstmals 1762 in Amsterdam und wurde umgehend in weiten Teilen Europas verboten. Logischer Weise in Frankreich, wo ein absoluter Herrscher kein Interesse an demokratischen Ideen haben konnte, aber auch in Genf, wo Rousseau 1712 geboren ist, und wo die Themen Volkssouveränität und Verfassung seit Beginn des 18. Jahrhunderts zu intensiven politischen Auseinandersetzungen geführt haben.

Jean Jacques Rousseau Pastell

Foto gemeinfrei: Jean-Jacques Rousseau, Pastell von Maurice Quentin de La Tour, 1753

Die Abhandlung des Philosophen enthält neben „Prinzipien des Staatsrechts“ (so der Untertitel in anderen Übersetzungen) auch wichtige Klärung der Begriffe: Staat, Souverän, Regierung, Untertanen, Bürger, Volk, subjektiver und allgemeiner Wille, Partikularinteresse und Staatsinteresse, sowie Gemeinwohl. Die Intention des Autors: „Ich möchte herausfinden, ob es in der gesellschaftlichen Ordnung irgendeine rechtmäßige und vertrauenswürdige Verwaltungsregel geben kann, wenn man die Menschen so nimmt, wie sie sind, und die Gesetze so, wie sie sein können.“ Dabei ist sich Rousseau bewusst, dass sich zwischen Ideal und Wirklichkeit eine Kluft auftut: „Der Mensch ist frei geboren, und überall befindet er sich in Ketten. Wer vermeint, der Herr über andere zu sein, ist mehr noch ein Sklave, als jene.

Das Axiom, dass der Mensch von Natur aus frei sei, ließe sich durch empirische Beobachtung leicht widerlegen: das Neugeborene ist völlig abhängig von den Eltern, die weitere (freie) Entfaltung des Kindes stößt an die Grenzen seines ökologischen und ökonomischen Umfelds, nicht zuletzt beschränkt die soziale Herkunft bis heute die Aufstiegs-Chancen im Beruf. „Von Natur aus frei“, darf demnach nicht auf die biologische und soziologische Ebene reduziert werden, dabei geht es um das Wesen des Menschen. Genau diesen Ansatz verfolgt auch Artikel 1 der UN-Menschenrechtserklärung 200 Jahre nach Rousseau: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“

Da in unserer Zeit die Theorie überhand nimmt, dass der Mensch wie jedes Lebewesen genetisch determiniert sei, muss hier die Idee der Freiheit und ihre Bedeutung für die Politik besonders hervorgehoben werden. Ohne das Axiom, dass der Mensch dem Wesen nach frei ist, wäre die Frage, wie man Freiheit des Individuums in der Gesellschaft gewährleisten kann und wie man sie verteidigen soll, hinfällig. Ohne diese Frage wäre die Idee der Demokratie hinfällig. Politik wäre dann lediglich die Durchsetzung der Macht des Stärkeren. In diesem Sinne kritisiert Rousseau hundert Jahre vor Nietzsche die christliche Sklavenmoral: „Das Christentum predigt nichts anderes als Knechtschaft und Abhängigkeit. […] Die wahren Christen sind dazu geschaffen, Sklaven zu sein; sie wissen es und es stört sie kaum. Dieses kurze Leben ist in ihren Augen zu wenig wert.“

Zwar macht Rousseau dem religiösen Zeitgeist des 18. Jahrhunderts Zugeständnisse, wenn er schreibt: „Alle Gerechtigkeit kommt von Gott, er ist ihre einzige Quelle;“ doch mit dem folgenden Nebensatz macht er sich bei weltlichen und geistlichen Fürsten gleichermaßen unbeliebt: „aber wenn wir imstand wären, sie von solch hohem Ursprung zu empfangen, dann bräuchten wir weder Regierung noch Gesetze.“

Gemäß Rousseau muss man sich die natürliche Freiheit am Anfang der Menschheitsgeschichte als „primitive Unabhängigkeit“ vorstellen und die Menschen hatten „von Natur aus keine Feinde“. Erst mit dem Zusammenschluss der Menschen zu Gemeinschaften wurde es notwendig, die ursprüngliche Freiheit zu beschränken, den individuellen Willen mit dem allgemeinen Willen in Einklang zu bringen - dafür braucht es den Gesellschaftsvertrag.

„Auf seine Freiheit zu verzichten bedeutet, die menschlichen Eigenschaften, die Menschenrechte und sogar -pflichten aufzugeben. Für den, der auf alles verzichtet, ist keine Entschädigung möglich. Ein solcher Verzicht ist mit der Natur [Anm.: mit dem Wesen] des Menschen unvereinbar; und wer alle Freiheit seines Willens nimmt, nimmt seinen Handlungen jede Sittlichkeit.“

Hier hebt der Philosoph die ontologische (metaphysische) Frage nach dem Wesen des Menschen auf die moralische Ebene. Er schreitet vom Sein zum Sollen. Nur wer frei ist, kann moralisch handeln. Weder das Tier, das seinen Instinkten folgt, noch der Sklave, der in Ketten liegt, kann moralisch handeln. Ontologische Prämisse und moralische Conclusio vereint Rousseau schließlich in der politischen Forderung: „Da jeder Mensch frei und als Herr seiner selbst geboren wird, darf ihn niemand, unter welchem Vorwand auch immer, ohne seine Zustimmung zum Untertan machen.“

Das zu verhindern ist Auftrag des Gesellschaftsvertrages, der als Grundlage jeder Verfassung dienen kann, die den Anspruch erhebt demokratisch zu sein, auch wenn Rousseau die (auf Wahl gegründete) Aristokratie gegenüber Demokratie und Monarchie vorzieht. Über die Demokratie schreibt er: „Es hat niemals eine wirkliche Demokratie gegeben – und es wird auch nie soweit kommen. Es ist gegen die natürliche Ordnung, daß die Mehrheit regiert und die Minderzahl regiert wird.“

Dieses Zitat zeigt, dass auch ein Visionär auf Grenzen seiner Vorstellungskraft stoßen kann, obwohl er die Republik durchaus idealisiert, während er die Monarchie mit spitzer Feder kritisiert: „Ein wesentlicher und unvermeidbarer Mangel, durch den die monarchische Regierung immer hinter der republikanischen nachhinken wird, liegt darin, daß in der Republik die öffentliche Stimme fast immer nur aufgeklärte und fähige Menschen zu den ersten Plätzen aufrücken läßt, welche ihren Aufgaben ehrenvoll nachkommen, während in den Monarchien nur zu oft kleine Wirrköpfe, Gauner und Intriganten Karriere machen.“

Unabhängig von Demokratie, Aristokratie oder Monarchie soll jeder Staat auf drei Säulen stehen: Souverän, Regierung und Untertanen. Die Regierung, egal ob Fürsten oder Staatskanzler, sind aus Sicht Rouseaus lediglich die obersten Verwalter des Staates (keine eigenmächtigen Beherrscher des Volkes) und die Verwaltung ist strikt vom Souverän (also dem Gesetzgeber) zu trennen. Die Bürger (in ihrer Gesamtheit: das Volk) prägen den Staat (die staatliche Körperschaft) in einer doppelten Rolle: aktiv als Souverän (= Gesetzgeber) und passiv als Untertanen, die als Bürger allerdings frei sind, denn:

Im Gesellschaftsvertrag verliert der Mensch seine natürliche Freiheit und ein unbeschränktes Recht auf alles, was er anstrebt und was er erreichen kann; er gewinnt im Gegenzug seine bürgerliche Freiheit und das Eigentum an allem, was ihm gehört. […] Man könnte dem Gesagten noch hinzufügen, daß wir mit dem Erwerb des bürgerlichen Standes auch sittliche Freiheit gewinnen, die allein den Menschen wirklich zum Herren seiner selbst macht; denn der Antrieb des bloßen Begehrens ist Sklaverei, nur der Gehorsam vor dem Gesetz, das man sich selber gegeben hat, ist Freiheit.

Das Gesetz schränkt in diesem Sinne die Freiheit nicht ein, sondern garantiert die Freiheit. Dies setzt allerdings auch voraus, dass Gesetze und das Rechtssystem als Ganzes auf Gerechtigkeit basieren. Das wiederum ist aus heutiger Sicht eine idealistische Annahme, denn die heutige Rechtspraxis kann nur den Anspruch auf ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren einlösen, nicht aber den Anspruch auf Gerechtigkeit. Das Bonmot „deine Freiheit hört dort auf, wo meine Freiheit beginnt“, ist eine oberflächliche Betrachtungsweise, die in Urzeiten der natürlichen Freiheit (geografische) Geltung hatte. Als politisches Statement könnte man daraus – bei heutigen Wohnverhältnissen in vielen Großstädten – lediglich die Forderung ableiten: jeder hat einen Anspruch auf 10 Quadratmeter Freiheit.

Philosophisch betrachtet gilt viel mehr: Freiheit beginnt dort, wo Gerechtigkeit herrscht und wo kein Platz für Gerechtigkeit ist, können auch 10 Quadratmeter Freiheit die Würde des Menschen nicht retten. Im Sinne Rousseaus: „Der Übergang vom Naturzustand in den bürgerlichen Stand bewirkt im Menschen einen sehr bemerkenswerten Wechsel, indem er die Gerechtigkeit anstelle des Instinktes in sein Verhalten setzt und seinen Handlungen die Sittlichkeit aufprägt, die ihnen zuvor gefehlt hatte.“

Das Gesetz – und umso mehr die Grundlage aller Gesetze, der Gesellschaftsvertrag – ist Ausdruck des allgemeinen Willens. Rousseau trifft die idealistische Annahme, „daß der allgemeine Wille immer auf dem rechten Weg ist und das öffentliche Wohl ins Auge faßt;“ relativiert aber umgehend: „aber das bedeutet nicht, daß die Entscheidungen des Volkes stets ebenso richtig wären. […] Es gibt oft einen großen Unterschied zwischen dem Willen aller und dem allgemeinen Willen; dieser achtet nur auf das gemeinsame Interesse [Anm: das Gemeinwohl], der Wille aller dagegen auf das private Interesse, ja er ist nur eine Summe individueller Wünsche.“

In den Demokratien von heute ist es bereits selbstverständlich geworden, dass die Partikularinteressen der Parteien und ihrer Klientel, also der subjektive Wille der Parteien, die Staatsinteressen, also das Gemeinwohl überlagern, ja geradezu verschütten.

Ausgehend vom Ideal der griechischen Demokratie und der römischen Republik ist die gesetzgebende Volksversammlung der Souverän. Je größer ein Staat, umso geringer die Chance, dass alle Bürger an diesen Versammlungen teilnehmen können. Dieses Problem wird heute üblicher Weise durch gewählte Volksvertreter, die im Parlament für die Gesetzgebung zuständig sind, gelöst. Die daraus folgenden Probleme, die Rousseau gesehen hat, werden von den heutigen Politikern weitgehend ignoriert.

„Die Souveränität kann nicht vertreten werden, und zwar aus demselben Grund, aus dem heraus sie nicht entäußert werden kann; sie besteht ihrem Wesen nach im allgemeinen Willen, und der Wille vertritt sich nun einmal nicht. […] Die Abgeordneten des Volkes sind also nicht seine Vertreter, noch können sie es sein; sie sind nur seine Beauftragen nichts können sie endgültig beschließen. Jedes vom Volk nicht persönlich ratifizierte Gesetz ist nichtig; es ist kein Gesetz.“

„In dem Augenblick, in dem ein Volk sich Vertreter gibt, ist es nicht mehr frei.“

25 Jahre nach Erscheinen des „Gesellschaftsvertrages“, 1787, haben die Vereinigten Staaten Amerikas ihre Constitution verabschiedet. Die Gewaltenteilung gehört seither zu den wesentlichen Grundsätzen aller demokratisch verfassten Staaten. Jean-Jacques Rousseau hat den Durchbruch seiner Ideen nicht mehr erlebt, er starb 1778 im Schloss Ermenonville des Marquis René Louis de Girardin in der Nähe von Paris.

Jean-Jacques Rousseau

Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts

Insel Verlag Frankfurt am Main 2017