Die Grenzen der Verhaltensforschung

Forschung / Wissenschaft / Wissenschaftstheorie / Verhalten / Sitte / Moral / Ethik

Essay als Vorarbeit zum Buch Moral 4.0,

(Erstmals publiziert am 21.2.2017 auf thurnhofer.cc)  - „Keine Moralform ist höher entwickelt als andere. Die unterschiedlichen, historisch gewachsenen Arten von Moral sind einfach nur verschieden und geraten häufig miteinander in Konflikt,“ so der Anthropologe Michael Tomasello im profil-Interview (Ausgabe 20.2.2017). Diese Aussage ist wohl dem (ethischen) Postulat der Wissenschaften verpflichtet, als Forscher keine Wertungen vorzunehmen. Doch die (moralische) Grundfrage „Was soll ich tun?“ bleibt damit unbeantwortet.

Radweg

Ist auch nicht Aufgabe des Wissenschafters, diese Frage zu stellen, geschweige denn zu beantworten, würde Tomasello wohl erwidern. Der Verhaltensforscher sucht naturgemäß die Wurzeln der Moral in der Naturgeschichte und im menschlichen Verhalten. Als Moralphilosoph kann ich bestätigen, dass es viele Moralen gibt. Gleichzeitig muss man aber auch verstehen: es gibt nur eine Ethik! Und diese Differenzierung sollte auch ein Naturwissenschafter berücksichtigen, sonst bleibt seine Forschung ein Sammelsurium von Sozial- und Gedankenexperimenten.

Tatsächlich gibt es unzählige Moralen, so viele wie Völker, Stämme, Familien und andere soziale Gruppierungen. Schon die sprachphilosophische Analyse des Begriffs „Moral“ erklärt das sehr einfach. Der Spruch „das ist bei uns so Sitte“ legt nahe, dass es sich bei vielen Verhaltensweisen um eine moralische Übereinkunft handelt, die von einer Gruppe (von „uns“) anerkannt ist und daher nicht weiter hinterfragt werden muss. Was nicht hinterfragt werden muss, ist – meist in religiös fundierten Moralen – tabu, d.h. es darf nicht hinterfrag werden. „Sitte“ ist nicht nur ein Synonym von „Moral“, sondern auch ein anderer Begriff für „Tradition“ und „Gewohnheit“. Daraus ergibt sich, dass jede Moral die Gesamtheit jener Verhaltensweisen innerhalb einer Gruppe ist, die auf Traditionen (in vielen Fällen religiös basiert) und Gewohnheiten basieren. Verhaltensweisen, die ungefragt angenommen, von jedem Gruppenmitglied befürwortet und bei Nichteinhaltung mehr oder weniger stark sanktioniert werden.

Da heute niemand (außer vielleicht Mitglieder eines Mafiaclans oder einer regional und/oder religiös abgeschotteten Clique) nur noch in einer Gruppe allein lebt, sondern in mehreren gleichzeitig, hat sich die Verbindlichkeit moralischer Grundsätze in den vergangen Jahrzehnten mehr oder weniger aufgelöst. Dies ist einer der Gründe für die Orientierungslosigkeit unserer Zeit. Wenn nun die Wissenschaft die „Gleichwertigkeit“ aller Moralen postuliert, laufen wir Gefahr, dass die Frage nach allgemein gültigen Grundwerten als „wissenschaftlich unzulässig“ abgekanzelt wird. Oder sie wird gleich mit der Faschismuskeule nieder geknüppelt, da ja in dieser Frage schon die Möglichkeit der „Überlegenheit“ einer Moral vor der anderen keimt.

Tomasello selbst bringt ein Beispiel: Die Regierungen vieler Schwellenländer gelten als korrupt weil sie wichtige Ämter bevorzugt an Verwandte vergeben. Der Familie zu helfen ist in diesen Sippen aber oberste moralische Pflicht. „Wir halten das für ungerecht, diese Politiker aber für völlig korrekt“, so der Anthropologe, der daraus folgert: „Auch soziale Normen helfen übrigens nur bedingt dabei moralische Entscheidungen zu treffen.“

An der Stelle muss man zu dem Schluss kommen, Tomasello weiß nicht wovon er spricht, wenn er den Begriff „Moral“ verwendet. Einerseits geht er von der Gleichwertigkeit aller Moralen aus, anderseits erlaubt er sich den Schluss, dass offenbar moralisch begründetes Handeln nicht moralisch sei wenn es zwar „korrekt“ aber „ungerecht“ ist. Hier noch ein Beispiel, das die wissenschaftlich neutrale Argumentation von Tomasello erschüttern könnte: Bis heute ist die Genitalverstümmelung bei Mädchen in vielen afrikanischen Ländern eine – moralisch begründete – Praxis. Die naturwissenschaftliche Beobachterrolle erlaubt es nicht, dieses Fehlverhalten, dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit, zu verurteilen. (IZRS = Islamischer Zentralrat Schweiz hat seine offizielle Sicht zur Beschneidung der Frau im Internet publiziert.)

Aus diesem Dilemma kommen wir nur heraus, wenn wir die Frage stellen, ob es allgemein verbindliche Grundwerte gibt, die über allen Moralen stehen.Und hier kommt die Ethik ins Spiel. Auch Moralphilosophen tun sich schwer, den Unterschied zwischen Ethik und Moral zu erklären. Typisch dafür ist die diffuse Formulierung von Julian Baggini: „Meiner Auffassung nach behandelt Moral die Handlungsweisen, die uns erlaubt oder nicht erlaubt sind, und zwar in erster Linie solche, die andere Menschen betreffen. Ethik ist ein etwas weiter gefasster Begriff, der alles einschließt, was damit zu tun hat, ob das Leben gut oder schlecht verläuft.“ (Die großen Fragen: Ethik, 2012)

Nicht nur, dass Baggini keinen Unterschied zwischen „Handlungsweisen“ (= Verhaltensweisen) und Handlungen macht, so ist seine Definition von Ehtik nichts anderes als ein erweiterter Moral-Begriff. Auf viele Moralen folgen damit viele Ethiken, die Verwirrung hat kein Ende sondern einen neuen Anfang.

Die allgemeine Sprachverwirrung ist ein weiterer Grund für die grassierende Orientierungslosigkeit unserer Zeit. Und diese macht auch vor wissenschaftlichen Arbeiten nicht Halt. Hier möchte ich auf das Diktum zurückkommen, „Es gibt viele Moralen, aber nur eine Ethik“, das ganz einfach zu erklären ist.

Die Grundfrage jeder Moral lautet: „Was soll ich tun?“

Die Grundfrage der Ethik lautet: „Warum soll man etwas tun (oder unterlassen?“

Damit ist auch für jeden Nicht-Philosophen sofort evident, dass die Ethik „über“ jeder Moral steht – nicht weil sie etwas „Besseres“ ist, sondern weil sie andere Fragen stellt, die sich auf einer Metaebene befinden. Vergleichbar mit Physik, die die Frage stellt, welche Naturgesetze gelten und wie sie wirken, während die Metaphysik die Frage stellt, warum es Naturgesetze gibt.

Jeder Mensch handelt moralisch, wann immer er sich die Frage stellt, was er tun soll. Es ist möglich, ein Leben lang moralisch zu handeln, ohne sich jemals die ethische Frage zu stellen: „Warum mache ich eigentlich das, was ich mache?“ Aus der ethischen Grundfrage (warum soll ich etwas tun?) lassen sich weitere Fragen logisch herleiten:

- Gibt es Grundwerte, die in jeder Moral gelten?

- Gibt es Grundwerte, die in jeder Moral gelten sollen?

- Lässt sich eine Wertehierarchie erstellen und begründen?

Noch ein Aspekt scheint mir wichtig: Die Grundlage unseres Verhaltens ist immer eine Moral (und da wir uns oft in verschiedenen sozialen Gruppen bewegen, sind fast immer mehrere Moralen Grundlage unseres Verhaltens). Die Ethik beschäftigt sich dagegen mit den Grundlagen unseres Handelns. Verhalten und Handeln sind zwei Phänomene, die sich nicht graduell, sondern prinzipiell unterscheiden. Das versteht jeder, aber niemand berücksichtigt diese einfache Wahrheit, wenn es darum geht, wichtige Entscheidungen zu treffen, die Grundlage des Handelns sind.

Tomasello erläutert die Gleichwertigkeit aller Moralen mit dem Beispiel zweier Ertrinkender. „Einer der Ertrinkenden ist ein Freund von Ihnen, den anderen kennen Sie nicht persönlich. Wen retten Sie?“ Die naheliegende Antwort auf diese Suggestivfrage - „den Freund“ - relativiert Tomasello aus der „kantianischen moralischen Perspektive“: da diese Moral keine Bevorzugung erlaube, sei es vielleicht sogar Egoismus, den Freund zu retten. Wie tief die Kant-Kenntnisse des Naturwissenschafters gehen, will ich an der Stelle nicht beurteilen, denn hier geht es zunächst um die unreflektierte Gleichsetzung von Handeln und Verhalten. (Und nebenbei darum, dass die Art einer Frage in vielen Fällen eine ganz bestimmte Antwort suggeriert.)

In dieser wie in jeder Notlage geht es nicht um Verhalten, sondern um Handeln, d.h. es geht zunächst einmal darum, überhaupt eine Entscheidung zu treffen und ins Wasser zu springen um jemanden zu retten. Nur ein Mensch, der den moralischen Grundsatz „Es ist wichtig Leben zu retten“ verinnerlicht hat und im Einzelfall auch das ethische Urteil getroffen hat „Leben zu retten ist wichtiger, d.h. ein höherer Wert, als das eigene Leben zu gefährden“, wird überhaupt einen Rettungsversuch unternehmen.

Mit Sicherheit wird die große Mehrheit der Zeugen eines solchen Unfalls ganz einfach am Ufer stehen bleiben und blöd schauen. (Moralisch leicht und gut begründbar: ich bin kein Rettungsschwimmer und darf professionelle Retter nicht bei ihrem Einsatz stören!) Manch einer wird wohl die Rettung rufen – der Mobilkommunikation sei Dank! Wer den Mut (wieder ein moralischer Wert!) hat, eines der Opfer zu retten, wird mit Sicherheit vorab keine Selektion vornehmen, mit welchem der potenziell Ertrinkenden er besser oder gar nicht befreundet ist. So wird er wohl den retten, den er als erstes erreicht. Und auch den zweiten, wenn dazu noch Zeit bleibt.

Das Beispiel zeigt, dass Dilemmata oft nur in Gedankenexperimenten von Wissenschaftern entstehen und damit zu Scheinproblemen führen. Gerade Notsituationen beweisen, dass die Menschen imstande sind, im Ernstfall das Richtige zu tun – wenn sie überhaupt bereit sind etwas zu tun. Und das heißt: wenn sie überhaupt bereit sind zu handeln! Doch die meisten Menschen sind gar nicht bereit zu handeln, weil sie nicht gelernt haben Entscheidungen zu treffen. Und das trifft auch auf die meisten Politiker zu. Darin liegt ein weiterer Grund für die Orientierungslosigkeit unserer Zeit.

Die Folge der Indifferenz erleben wir täglich in der Unfähigkeit unserer Politiker, Entscheidungen zu treffen. Entscheidungsfähigkeit setzt Urteilskraft voraus. Nur am Rande sei erwähnt, dass Immanuel Kant nicht nur die „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“, sondern auch die „Kritik der Urteilskraft“ geschrieben hat. Die Wirkkraft seiner Werke, die für die Aufklärung eine zentrale Rolle gespielt haben, hat in den vergangenen hundert Jahren stark nachgelassen, auch deshalb, weil Wissenschafter ihr Wissen oft nur aus der Sekundärliteratur beziehen, insbesondere wenn es nicht um ihre Kerndisziplin geht.

Ein Beispiel europaweit völlig paralysierter Politiker hat uns die Flüchtlingswelle im Jahr 2015 geboten. Zuvor war es jahrelang nicht möglich, in den Gremien der EU eine für alle Länder verbindliche Quote für die aus allen Nähten platzenden Flüchtlingslager in der Türkei zu finden. Solidarität, Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft wurden in dieser Phase als moralische Werte zu Grabe getragen und das jeweilige Eigeninteresse, Unmenschlichkeit und Hilflosigkeit ganz einfach hingenommen. Aber auch die Unfähigkeit zu Handeln bedarf der Legitimation. Das haben Politiker aller Coleurs mittlerweile ganz gut gelernt, indem sie das Legalitätsprinzip über das Moralitätsprinzip stellen. Infolge dessen haben wir heute fast nur noch Politiker, die nicht nur als Bürokraten, sondern als Superbürokraten agieren.

In der ständigen Angst, nicht rechtmäßig zu handeln, handeln die Politiker überhaupt nicht mehr, wenn sie dafür in den bestehenden Gesetzen keine Grundlage finden. So gab es, als die Blase in der Türkei platzte und die Flüchtlingswelle auf Europa zurollte, keinen einzigen Politker, der aufgestanden wäre um den Menschen den Sachverhalt so einfach zu erklären wie er war: Wir sind in einer Ausnahmesituation, auf die wir nicht vorbereitet sind. Demnach haben wir dafür auch keine gesetzlichen Regelungen und müssen kurzfristig Notverordnungen erlassen. Diese haben die humanitäre Erste Hilfe zu regeln, nämlich die Erstversorgung in Notquartieren und die Registrierung aller Einreisenden. Sobald dies geregelt ist müssen wir in kürzest möglichen Fristen klären, wer bleiben darf und wer nicht.

Es ist nicht notwendig hier hunderte Beispiele von Fehlverhalten auf Basis des Legalitätsprinzips aufzuführen. Nur zwei Beispiele: Ein Altenheim durfte freistehende Zimmer nicht für Flüchtlinge nutzen, weil diese angeblich nicht der Bauordnung entsprachen. Und 16-jährige Flüchtlingskinder, deren Integration von einem Politechnikum vorbildlich unterstützt wurde, mussten aus der Schule verwiesen werden, weil sie das schulpflichtige Alter überschritten hatten.

„Das Recht steht über Allem“, wird heute von Politikern als selbstverständlich voraus gesetzt. Dass sie damit jeglichem politischen Handeln die Grundlage entziehen, zeigt sich in der Flüchtlingskrise. Denn Politik heißt nicht primär, Gesetze einzuhalten, sondern zu handeln. Und wenn es die Umstände erfordern, einen neuen gesetzlichen Rahmen für Handlungen zu schaffen. Das aber geht nur auf Basis von Werten. Die Verständigung auf Grundwerte ist somit unumgänglich, wenn die Politik wieder handlungsfähig werden will.

Um es kantianisch zu formulieren: Politiker müssen verstehen, dass es nicht oberste Maxime ihres Handelns sein kann, ihre Pflicht zu erfüllen (was legitimer Weise für jeden Beamten zu gelten hat), sondern ihren Verpflichtungen (=Verantwortung) nach zu kommen. Die vorrangige Aufgabe der Politiker besteht darin, ihre Verpflichtungen (=Verantwortung)  zu erkennen und im Interesse ihres Volkes zu handeln. Das mag etwas banal klingen, enthält aber zwei Prämissen, die heute nicht mehr selbstverständlich sind: Die Urteilsfähigkeit, konkret die Fähigkeit zwischen Pflicht und Verpflichtung unterscheiden zu können. Und die Handlungsfähigkeit, konkret dann, wenn es nicht um die Aufrechterhaltung des Status quo geht, sondern um den richtigen Umgang mit Veränderungen. Aber wie erkennt man, ob etwas richtig ist oder nicht?

Das wiederum ist eine Grundfrage der Ethik, die uns aber die Wissenschaft allein nicht beantworten kann. Denn wie Tomasello mit seinen Untersuchungen beweist, ist die Wissenschaft grundsätzlich nicht die richtige Disziplin, um bis zu den Grundfragen der Ethik vorzudringen. Die Schlussfrage im profil-Interview, wie man erreichen könne, dass sich die Menschheit weltweit solidarisch verhält, kann er deshalb auch nur mit einer halblustigen Pointe beantworten: „Eine Invasion von Aliens wäre die Lösung: Außerirdische, die uns vernichten wollen. Alle Menschen würden sich verbünden, um die Verteidigung unseres Planeten zu organisieren.“

Ich finde, wir sollten nicht auf die Außerirdischen warten um über die grundlegenden ethischen Fragen unserer Zeit nachzudenken. Ein ethischer Diskurs auf breiter Basis ist daher dringend notwendig! (HTH 21.2.2017)

Michael Tomasello

Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral

Suhrkamp, Berlin 2016

(Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder. Im Original erschienen unter dem Titel A Natural History of Human Morality) (Harvard University Press),